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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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mit dem gezielten und geradezu zähneknirschenden Vorsatz, den PROCESS entscheidend voranzutreiben oder gar abzuschließen. Dennoch legte er jene Hefte beiseite und begann etwas scheinbar gänzlich Neues. Warum? Es ist dies eine der seltenen Gelegenheiten, da sich ein Durchblick öffnet in Kafkas Labor, wo seine scheinbar so perfekten, bis zur letzten Silbe durchgearbeiteten und polierten Schöpfungen im Zustand der Gärung sich zeigen.
    Es war ja zunächst eine Idee Dostojewskis gewesen, die Kafka als tragenden Pfeiler übernommen hatte, der berühmte plot von VERBRECHEN UND STRAFE: Ein Schuldiger, der seine Schuld nicht erträgt, drängt sich seinem Richter auf, bis dieser das grausame Spiel endlich beendet – die Idee der Selbstbestrafung, der Selbst -Justiz im wörtlichen Sinn, die Kafka ergiebig und paradox genug erschien, um in einem weiteren Roman noch einmal ganz neu entfaltet zu werden.
    Dass Kafka diese Idee attraktiv fand, wird niemanden verwundern angesichts der zahllosen, teils exzessiven Selbstbestrafungsphantasien, die er seit Jahren in den Tagebüchern hütete. Ein masochistisches Begehren, das er selbst dann, wenn es ihm klar vor Augen stand, nicht immer einzudämmen vermochte und das an seiner fortdauernden Angst, eines Tages den Verstand zu verlieren, beträchtlichen Anteil hatte. Was aber heißt ›Masochismus‹? Ein schuldbewusster Täter, der in seinem Versteck ausharrt, bis die Polizei vor der Tür steht, folgt einem scheinbar natürlichen Eigeninteresse. Ein anderer wird lieber ins Büro des Untersuchungsrichters spazieren und sagen: ›Ich war’s, machen Sie mit mir, was Sie wollen.‹ Das erscheint verrückt, masochistisch. Doch dieser zweite Täter hat weitaus bessere Chancen, die unvermeidliche Strafe zu überstehen, ohne dass seine Würde irreparabel geschädigt würde. Er hat sich dem Gesetz unterworfen, ohne das Gesetz des Handelns völlig aus der Hand zu geben, und selbst wenn er den Tod zu gewärtigen hat, behält er noch immer die Würde dessen, der bestimmt, wann es geschieht: die letzte Würde des Selbstmörders.
    Kafka hatte ein ausgeprägtes Sensorium für diese scheinbar nur defensive, in Wahrheit aber auf umfassende Autonomie drängende Würde, und umso mehr litt er darunter, dass er das masochistische Begehren {561} selbst nicht unter Kontrolle bekam. Masochismus ist eine Perversion, die ihre Lust aus dem Schmerz gewinnt. Wie jede Perversion ist sie eine Fixierung, die den Betroffenen sich selbst entzieht und seine Autonomie unterhöhlt: Der Peitsche freudig entgegenzufiebern ist ein Zustand, der mit Würde und Selbstachtung nur noch schwer zu vereinbaren ist. Ebenso wenig wird man einem literarischen Werk Autonomie zubilligen, das überschwemmt ist von masochistischen Phantasien. Denn das Mitvollziehen eines differenzierten schöpferischen Akts, der sich im Bewusstsein des Lesers fortpflanzt, ist etwas gänzlich anderes, als zum bloßen Zuschauer einer Entladung zu werden.
    Kein Zweifel, dass Kafka bei der Arbeit am PROCESS – nicht anders als im Tagebuch – immer wieder von Szenen unbeherrschter Grausamkeit heimgesucht wurde, die er entschärfen musste, wenn er die Selbst-Justiz seines Helden nicht als lustvolle Selbstvernichtung denunzieren wollte. Da Kafkas Schreiben von Bildern gesteuert wurde, bedeutete diese ständige Suche nach Kompromissen jedoch einen erheblichen Reibungsverlust: ›Sich öffnen‹ hieß eben auch, eine Öffnung zu schaffen, durch die eine unabsehbare Fülle perversen Materials ins Bewusstsein geschwemmt wurde, während die vollständige Unterdrückung dieses Materials wiederum jenes »traumhafte innere Leben« erstickt hätte, das die schwebende Konzentration des Schreibens vom gewöhnlichen Wachzustand ja gerade unterschied.
    An welche Grenzen Kafka hier stieß, lässt vor allem das ›Prügler‹-Kapitel des PROCESSES erkennen, in dem der Angeklagte zum unfreiwilligen Zeugen einer Bestrafung wird. Die beiden erbärmlichen Opfer – es sind ebenjene Wächter, über die K. sich beim Gericht beschwerte – müssen sich vollständig entkleiden, während der Prügler – »er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein wildes frisches Gesicht« – eine Lederkluft trägt, die viel Haut sehen lässt und die sonst ausschließliches Kennzeichen der Sadomaso-Szene ist. Die sexuellen Impulse, aus denen die energische Bereitschaft zur Selbst-Justiz sich speist, hat Kafka hier so offen gelegt, als dies in der artifiziellen Welt seines Romans noch

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