Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Herausforderung, der keine hermeneutische Großtheorie widerstehen kann. Gerade darum aber gilt: je anämischer der Diskurs, je vernehmlicher das Rascheln der Sekundärtexte, desto beliebter die STRAFKOLONIE.
Ein aus purer Leselust herrührendes Bedürfnis, diesen literarischen Gewaltstreich gründlich und mehrmals vorzunehmen, verspüren hingegen nur wenige. Auch hat die Erzählung niemals Zugang gefunden zum innersten Kanon der literarischen Hochkultur: Sie überhaupt nicht gelesen zu haben oder gar sie abscheulich zu finden, verletzt den allgemeinen Konsens weit weniger als ein böses Wort über den PROCESS. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Allzu sehr wird der Text beherrscht von der Mechanik seines stofflichen Gehalts, er ist wie ein Spielwerk, das man ein-, zweimal abschnurren lässt und dann beiseite legt, weil man es kennt. Kafka selbst hat diesen Mangel sofort wahrgenommen, der besonders auf den letzten Seiten förmlich aufklafft: Die Hinrichtungsmaschine hat ihren Dienst getan, ihr Programm ist abgespult, und dass die Erzählung nun dennoch nicht zu Ende ist, kommt überraschend – so sehr identifiziert man ihre Form mit der Arbeit der Maschine selbst. Der kurze Schlussteil, die missmutige Abreise des Beobachters, erscheint als ein ›PS‹, dessen Notwendigkeit nicht recht einleuchtet und dem Kafka noch Jahre später eigenes Gewicht zu geben suchte, ohne indessen eine völlig befriedigende Lösung zu finden. [529]
Dass ihm schon in den allerersten Rezensionen der Vorwurf der Sensationsmache entgegenschlug, hat Kafka hingegen wenig bekümmert. [530] Er verteidigte sein Sujet, und er brachte es mit der gewaltgesättigten Gegenwart in ausdrücklichen Zusammenhang. Als Kurt Wolff einer Veröffentlichung der STRAFKOLONIE zustimmte, im selben {559} Atemzug jedoch auch sein Entsetzen artikulierte und von ›Peinlichkeit‹ sprach, erhielt er von seinem Autor eine höchst charakteristische, wie stets formell entgegenkommende, sachlich jedoch unnachgiebige und zurechtweisende Antwort:
»Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mit meiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bisher von mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen frei ist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich ist, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine.« [531]
Es waren wohl vor allem die feinen Aquarelle von BETRACHTUNG und die sprachliche Leuchtkraft des HEIZERS, die Kurt Wolff vor Augen standen, wenn er an seinen schüchternen Autor Franz Kafka dachte. Einblick in dessen Werkstatt bekam er niemals, und wenn auch Brod und Werfel bisweilen von den zahllosen fast vollendeten Projekten schwärmten, mit denen ihr Freund längst die Beletage der deutschen Literatur hätte beziehen können, so hatte doch der Verleger eine allenfalls vage Vorstellung von den eisigen Regionen, in die Kafka jetzt vorstieß und in die kaum jemand ihm mehr zu folgen vermochte. Wäre freilich das Manuskript des PROCESSES beizeiten in die Hände Kurt Wolffs gelangt, so hätte ihn die STRAFKOLONIE weit weniger überrascht.
Denn jene Insel in den Tropen, die glühende Sonne über dem »tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal« – das waren alles Kulissen, die der Autor routiniert auf- und abbaute, die aber dennoch keinen Augenblick davon ablenken konnten, wo man sich tatsächlich befand. Jener Folterapparat, der das Urteil dem Delinquenten blutig in den Rücken graviert, wieder und wieder, bis die Erkenntnis der eigenen Schuld mit dem Tod in eins fällt – dieser Apparat war doch in Wahrheit ein Instrument des Gesetzes , das nicht im hellen Licht des Tages, sondern in irgendeinem tiefen, unzugänglichen Keller des Gerichts wütete.
Dass die STRAFKOLONIE, auch wenn sie am gegenüberliegenden Ende der Welt spielt, ein thematischer Ableger des PROCESS-Romans ist, verrät der erste flüchtige Blick, und dass die beiden Werke gleichzeitig entstanden, scheint das Natürlichste. Überraschend ist allenfalls, {560} dass Kafka selbst ganz unvermutet auf diese Mine stieß. Seinen kostbaren Urlaub – eine ganze Woche, und dann noch eine weitere – hatte er ja keineswegs in der unbestimmten Hoffnung genommen, wieder einmal eine Nacht ›durchmachen‹ zu dürfen, sondern
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