Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
eben möglich war; ja, er lässt seinen Helden sogar daran denken, sich selbst unter die Rute zu legen. Noch ein Wort mehr, und es fließt das Blut des Josef K. Doch diese Strafe käme zur Unzeit: Nicht nur wäre der plot des Romans durchkreuzt, der doch gerade eine abwartende, beobachtende Haltung des Gerichts {562} voraussetzt; auch die Identifikation des Lesers mit dem Angeklagten bräche unvermittelt zusammen, denn dieser wäre als ›bloßer‹ Masochist entlarvt, und die geheimnisvolle Lockung des Gerichts fände eine einleuchtende, wenngleich profane Erklärung. Tatsächlich zuckt Kafka im ›Prügler‹-Kapitel vor dieser Konsequenz im buchstäblich letzten Augenblick zurück. Dennoch bleibt ein fader Nachgeschmack, die Szene wirkt abgehoben wie eine Halluzination, und sie gehört auch zu den wenigen Passagen, in denen das untergründige Lachen des Autors verstummt.
Kafka hat in der STRAFKOLONIE ebenjenes Blut frei fließen lassen, das aus den Poren der PROCESS-Welt unablässig hervorzudringen droht. Was seinen Roman vergiftet hätte, filterte er heraus und sammelte es andernorts . Das Ergebnis war eine Erzählung, heiß und schwer wie flüssiges Blei, ein Text, dessen Ernst und Gewaltsamkeit im Gesamtwerk ebenso isoliert bleibt wie die Prügelstrafe im Kontext des PROCESSES. Kafka hat diesen Bruch in Kauf genommen – zu groß war das Moment der Entlastung, das er wohl selbst noch beim Vorlesen verspürte. Seine Zuhörer indessen stiegen in diesen Keller nur mit Grauen hinab. Sie waren außerstande, hier nichts als Literatur am Werk zu sehen. Und das konnte ihnen niemand verdenken. Denn die Fortsetzung dieser Szenen stand jetzt in den Zeitungen, Tag für Tag.
Ein Jahr schon dauert Josef K.s Prozess. Er findet, es ist genug. Am Vorabend seines 31. Geburtstags legt er schwarze Kleidung an, Festkleidung, Trauerkleidung. Er setzt sich in einen Sessel und wartet. Das Gericht hat verstanden, um 21 Uhr klopft es an K.s Tür, zum zweiten und letzten Mal. Das Urteil muss niemand aussprechen, es ist ›gefällt‹, es lautet Tod durch Erstechen.
Sein 31. Geburtstag. Das war Freitag, der 3.Juli 1914. An diesem Tag hatte Kafka einen Brief von Grete Bloch erhalten, in dem sie zum ersten Mal nicht als Vertraute, sondern als Anklägerin zu ihm sprach; der Tag, an dem sie sich abwandte. Gleichzeitig traf eine weitere unangenehme Mitteilung ein, vermutlich von Musil, der ihm sagen musste, dass DIE VERWANDLUNG nun doch nicht in der Neuen Rundschau erscheinen würde … Das Ende zweier Hoffnungen.
Es geschah aber noch anderes an diesem Tag. Aufgedeckt hat es der Journalist Heinrich Kanner, der nach Kriegsende ein Gespräch mit Leon von Biliński führte, dem früheren österreichisch-ungarischen {563} Finanzminister. Biliński hatte nach dem Attentat von Sarajevo an den entscheidenden Sitzungen des Ministerrats teilgenommen und dessen aggressive Linie mitbestimmt. [532] »Wir haben den Krieg schon ganz früh beschlossen«, erklärte er, »das war schon ganz am Anfang.« Kanner wollte es genauer wissen, fragte nach dem präzisen Datum. »Es war am 3.Juli«, antwortete Biliński. – Der Tag, an dem das Urteil gesprochen wurde, das Urteil über Europa.
{564} Die Wiederkehr des Ostens
the gods forget they made me so I forget them too
David Bowie, SEVEN
An einem der ersten Septembertage des Jahres 1914 war im Prager Staatsbahnhof eine sonderbare Szene zu beobachten. Aus einem Zug, der soeben eingefahren war, kamen Menschen hervor, wie man sie hier noch niemals gesehen hatte: zerlumpte Gestalten, die Männer mit struppigen Vollbärten, einige im Kaftan, die Frauen schwer bepackt mit Säuglingen und undefinierbaren Stoffbündeln, die zahlreichen, an den Röcken sich festklammernden Kinder allesamt schmutzig und mit hungrigen Gesichtern. Mehr als zweihundert Menschen, die sich mit ihrer gesamten Habe in der Wartehalle niederließen und die – offenbar von niemandem erwartet – nun geräuschvoll berieten, wohin sie sich wenden sollten. Reisende verlangsamten ihren Schritt, verfolgten das Spektakel. Das waren Juden, so viel war sicher. Doch man verstand sie nicht, man verstand kein Wort.
Ein Wachmann machte schließlich dem Auftritt ein Ende. Nachdem man ihm auseinander gesetzt hatte, dass dies alles Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie waren und dass es doch ›Stammesgenossen‹ in Prag geben müsse, die sich des Problems annehmen würden, führte er die Gruppe ins Jüdische Vereinsheim, Langegasse 41.
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