Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Hier endlich, unter den erschrockenen Mitgliedern des Arbeitervereins ›Paole-Zion‹, fanden sie Menschen, die Jiddisch oder Polnisch verstanden, hier endlich gab es Tee, Brot und Waschschüsseln.
Aus Ostgalizien stammten sie, seit Tagen waren sie unterwegs. Ihr Schtetl war von den entsetzlichen Kosaken überrollt worden, in letzter Stunde waren sie geflohen, anfangs zu Fuß und auf Karren, um den Plünderungen und Vergewaltigungen zu entgehen. Zahlreiche Verwandte hatten sie zurückgelassen, deren Schicksal man sich nicht {565} auszumalen wagte. Einige Familien wurden auf der Flucht getrennt, auch Kinder ohne Eltern waren bei dem Trupp, und einige der zugehörigen Söhne und Väter dienten an der Front, man wusste nicht wo. Nur eines war gewiss: Die Zweihundert waren eine Vorhut. Es würden noch viele kommen, sehr viele.
Am Bahnhof wurden Wachen aufgestellt, um die nächsten Züge zu erwarten. Vor allem Jugendliche des jüdischen Wanderbunds ›Blau-Weiß‹ waren es, die dort mit Schildern in hebräischer Schrift viele Stunden lang ausharrten, um die desorientierten Menschen in Empfang zu nehmen. Eine Woche später waren es achthundert. Ende September, als Evakuierungen auch in Mittel- und Westgalizien begannen, waren es zweitausend. Im November sechstausend. Am Ende des Jahres waren es mehr als elftausend. [533]
Die Invasion von Kriegsflüchtlingen, mit denen Böhmen, das österreichische Kernland sowie Ungarn bereits im zweiten Kriegsmonat konfrontiert war, wirkte zunächst als politischer Schock: Niemand, auch nicht die Bestinformierten, hatte mit etwas Derartigem gerechnet. Zwar war der erste, besinnungslose Kriegsjubel schon bald einer ängstlichen Erwartung gewichen, und längst war jedem deutlich, dass dieser Krieg länger und härter werden würde, als die hochfahrenden Drohgebärden der Diplomaten und Militärs suggeriert hatten. Doch noch immer war die Presse beherrscht von Siegesmeldungen – deutsche auf Seite eins, österreichische knapp dahinter.
Die Wahrheit war, dass die k. u. k. Armeen schon zwei Wochen nach Beginn der Kämpfe eine erste, verheerende Niederlage erlitten hatten. Die Serben, die in kürzester Frist jeden verfügbaren Mann mobilisierten und auch nicht davor zurückschreckten, Kinder und Großväter an die Front zu schicken, schlugen den österreichischen Angriff zurück und überschritten sogar die Grenzen nach Bosnien und Ungarn. Dieses habsburgische Debakel wiederholte sich im Dezember in noch weit größerer Dimension: 200 000 Österreicher traten an, nur 160 000 kehrten zurück, davon viele mit Verwundungen und schweren Erfrierungen. Erreicht hatten sie nichts. Und dies war das Ende einer Strafaktion, welche von der kriegslüsternen Presse wochenlang in Metaphern der Ehre diskutiert worden war, als handele es sich um das beiläufige Verabreichen einer Ohrfeige.
Natürlich war allen bewusst gewesen, dass die Serben strategisch {566} und propagandistisch im Vorteil waren: Sie hatten es nur mit einem Gegner zu tun, während auf die Österreicher an ihrer Nordostgrenze zu Russisch-Polen noch eine ungleich größere Aufgabe wartete. Doch ungebrochen war der Wahn der österreichischen Armeeführung, die Strafexpedition auf dem unterentwickelten Balkan sei ein job , nach dessen Erledigung man sich mit gesammelten Kräften der Niederwerfung des Zarenreichs widmen werde. Zwar wurde schon in den ersten Kriegswochen deutlich, dass dies eine krasse Fehleinschätzung war: Denn die in Serbien sinnlos sich verschleißenden Einheiten wären in Galizien dringend gebraucht worden, wo eine zahlenmäßig überlegene, bestens ausgerüstete und überraschend schnelle russische Armee sich die klaffenden Lücken sofort zunutze machte. Doch in Wien wurden alle aufkeimenden Zweifel erstickt durch den realitätsfernen Ehrgeiz, dem glorreichen Vormarsch der deutschen Waffenbrüder auf Paris und den sensationellen Siegen in Ostpreußen, die ja die Verwundbarkeit der Russen augenfällig bewiesen hatten, irgendetwas ›Gleichwertiges‹ zur Seite zu stellen.
Tatsächlich war das Kampfgeschehen an der 400 Kilometer langen galizischen Front zunächst so unübersichtlich, dass es den militärischen Behörden leicht fiel, der Bevölkerung im Hinterland eine erfolgreiche Kampagne vorzuspiegeln: Die österreichischen Geländegewinne, so wurde verkündet, seien nur die ersten Schritte zur ›Befreiung‹ ganz Polens. Gleichzeitig jedoch marschierten russische Einheiten nahezu ungehindert in Ostgalizien
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