Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
und in der Bukowina ein und lösten eine ungeheure, über Monate anschwellende Flüchtlingswelle aus. Die Leser in Wien und Prag rieben sich die Augen: Es stünden gewaltige Schlachten um Lemberg und Przemyśl bevor, hieß es plötzlich. Das waren Festungsstädte, die tief im eigenen Territorium lagen. Was, um Himmels willen, war dort los?
Die Flüchtlinge brachten die Wahrheit mit. Allein die schiere Zahl, in der sie im Land umherirrten, belegte, dass es sich keinesfalls um geplante oder gar – wie es im Falle Lembergs hieß – um ›strategische‹ Evakuierungen handeln konnte. Zu schweigen davon, dass auch von jenseits der Grenze, aus Russisch-Polen, weitere Flüchtlinge nachrückten, aus Furcht vor Pogromen und Deportationen durch die russische Armee. Kein Zweifel: Der Feind war da, und die lokalen Behörden waren völlig überrascht von einer Situation, für die nicht die geringste administrative Vorsorge getroffen war. Sie schoben die {567} Flüchtlinge nach Westen ab, von einer Stadt in die nächste, ansonsten überließen sie die ›Evakuierten‹ ihrem Schicksal. Und wer von diesen letztendlich in irgendeiner böhmischen Kleinstadt strandete, in Prag, in Wien oder gar im Deutschen Reich (das die Bürger des verbündeten Staates noch nicht abzuweisen wagte) – das entschieden logistische Zufälle, die Hoffnung auf irgendwelche fernen Verwandten und der Bestimmungsort der nächsten verfügbaren Waggons.
Nach dem politischen kam der soziale Schock. Dass Galizien keine wohlhabende Region war, wusste man. Die ersten Menschen aber, die von dort kamen, besaßen buchstäblich nichts mehr außer den Lumpen, die sie am Leib trugen. Unter ihnen fanden sich Geschäftsleute, Hausbesitzer, Lokalpolitiker, Talmudgelehrte, die elender aussahen als die letzten Bettler. Zwischen Ekel und Mitleid riss es die Prager Bürger hin und her, und mancher fühlte sich angesichts der Physiognomien, die ihm jetzt täglich begegneten, an die geläufigen antisemitischen Karikaturen erinnert. Es gab Gelächter und Häme. »Galizien in Prag«, titelte das Prager Tagblatt und ergänzte seinen Bericht durch Porträtstudien – als seien Indianer in der Stadt. Auch Attacken von Patrioten gab es, die nicht einsehen wollten, dass Leute, die vor dem Krieg davongelaufen waren und schlechte Stimmung machten, nun auch noch auf Kosten des Steuerzahlers leben sollten. Doch es war fast ausschließlich privater Initiative zu verdanken, dass die meisten Flüchtlinge vor dem sozialen oder gar physischen Untergang bewahrt blieben.
Eine jüdische Volksküche wurde errichtet, Haushaltsgegenstände und Kleidung wurden gesammelt, Ärzte und Anwälte praktizierten ohne Honorar, Wohnungen wurden bereitgestellt. Da die staatlichen finanziellen Hilfen, obgleich schon im September zugesichert, wochen- und monatelang auf sich warten ließen, nahm die jüdische Kultusgemeinde riesige Kredite auf, um die Zahlungen vorstrecken zu können: 70 Heller pro Kopf und Tag. Die praktische Arbeit übernahmen jüdische Wohltätigkeitsorganisationen, aber auch die zionistischen Vereine (darunter der ›Verein jüdischer Mädchen und Frauen‹, dem Ottla Kafka sich angeschlossen hatte) waren fast rund um die Uhr im Einsatz. Erst gegen Ende des Jahres, als deutlich wurde, dass an eine baldige Rückkehr der Entwurzelten in ihre Heimatorte nicht zu denken war, wachten auch die Behörden auf. Sie ließen am Stadtrand Barackenlager errichten, um die mittlerweile pausenlos einströmenden Ostjuden von den Einheimischen zu trennen.
Da die tschechische Mehrheit in Prag sofort auf Distanz ging und selbst die tschechisch sprechenden Juden keinen Anlass sahen, Verantwortung zu übernehmen für Menschen, die ihnen kulturell derart fern standen [534] , blieb das Flüchtlingsproblem ganz in Händen der Deutschjuden. Auch hier freilich fühlten sich viele peinlich berührt: Ausgerechnet jetzt, da der Krieg Gelegenheit bot, die nahtlose kulturelle Integration der Juden unter Beweis zu stellen, kamen diese ›armen Verwandten‹ des Wegs, Halbzivilisierte, denen man grundlegende bürgerliche Verhaltensformen erst mühsam beibringen musste. Eigentlich wollte man mit ihnen nicht gesehen, noch weniger identifiziert werden. Vor allem in der Führung der Kultusgemeinde dürfte es angesichts der ›Gettoluft‹, die den Flüchtlingen aus den Kleidern strömte, zu lautstarken Debatten gekommen sein. Während man aber noch drei Jahre zuvor, als Kafka gemeinsam mit Jizchak Löwy in einem Saal der
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