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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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auf seine Funktionäre fällt, den Anblick eines Komödienstadels bietet. Die Richter studieren Pornohefte statt Gesetzbücher und lassen sich Frauen herbeitragen wie fette Haustiere. Ihre Lakaien werden fast ohnmächtig, wenn sie anstelle von Aktenstaub einmal frische Luft zu atmen bekommen. Die Henker sehen aus wie alternde Tenöre. Über den Angeklagten im Wartezimmer der Kanzlei befindet sich ein Loch in der Decke, durch das ab und zu das Bein eines Verteidigers ragt. Und überboten wird dies alles noch durch eine »Geschichte«, die natürlich {555} wiederum niemand bezeugen kann, die aber »sehr den Anschein der Wahrheit hat«:
»Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind tatsächlich fleissig wie niemand sonst. Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit gieng er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten was sie tun sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren und es lag ihnen also viel daran einzudringen. Schliesslich einigten sie sich darauf dass sie den alten Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauf lief und sich dann unter möglichstem allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen liess, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und gieng in seine Kanzlei zurück. Die unten wollten es zuerst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehn sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren.« [528]  
    Das ist reiner Slapstick, und wenn in einem jener zahllosen Klamaukfilme, an denen sich Kafka schon seit Jahren erheiterte, eines glücklichen Tages diese Szene entdeckt werden wird, so sollte es niemanden überraschen. Sein Lachen ist das des Kinogängers.

    Gelegenheiten, dieses Lachen zu hören , waren freilich rar. Kafka versteckte, verflüchtigte sich beinahe, und seit er sich seiner nächtlichen Arbeit völlig unterwarf, hielt er alles, was auch nur entfernt nach einer möglichen Störung aussah, auf Distanz. Brod machte regelmäßig einen kleinen Umweg, um ihn nach Dienstschluss aus dem Büro abzuholen. Doch kaum waren sie ein paar Straßen gemeinsam gegangen, bog Kafka lächelnd um die Ecke, und auch am Abend ließ er nichts mehr von sich hören. Felix Weltsch wartete nach seiner Heirat wochenlang vergeblich auf Kafkas Besuch – beinahe ein Affront, für den sich der launische Freund dann mit lauen Gründen entschuldigte. Und auch dem blinden Oskar Baum wird kaum entgangen sein, dass {556} die Gespräche schleppender verliefen und Kafka sich in der warmen Wohnstube langweilte.
    Wirklich präsent war Kafka allein beim Vorlesen, und unvermindert war seine Lust, den stummen Visionen einen hörbaren Rhythmus zu verleihen. Am 20.November trug er Brod eine neue, bereits abgeschlossene Erzählung vor, IN DER STRAFKOLONIE, und obwohl sich später Brod dieser Stunde nicht mehr deutlich zu erinnern vermochte, lässt sich der Schock unschwer ermessen: Nicht nur trat Kafka – der ja, wie die engsten Freunde wussten, besessen an einem Roman arbeitete – nun unverhofft mit einem umfänglichen Nebenprodukt hervor; er hatte überdies die Traumlogik des PROCESSES, deren erste Kostproben fremd und atemberaubend genug waren, nochmals in unerhörter Weise überboten. Es ist kein Zufall und gewiss von Brod initiiert, dass Kafka kaum zwei Wochen später Gelegenheit erhielt, in kleinstem Kreis und an ungewöhnlichem Ort seine Erzählung ein weiteres Mal vorzutragen: in Werfels Elternhaus, wo sich neben Brod auch Otto Pick einfand. Kafka, abgelenkt, weil er den Blick von Werfels schönen Schwestern nicht abzuwenden vermochte, hat über die Wirkung seines Textes leider nichts überliefert. Eines aber ist gewiss:

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