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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Gelacht hat dabei niemand, nicht der Autor, nicht die Zuhörer.

    In Kafkas STRAFKOLONIE wurde erstmals zu Literatur, was man – trotz des anschwellenden Grauens, das alle umgab – noch im Jahr 1914 für schlechterdings nicht literarisierbar hielt: die Folter. Gewiss gab es schon unter den ersten Hörern und Lesern einige, die bemerkten, dass dies nichts absolut Neues war und dass auch Kafka sich einer Vorlage bediente: Er hatte offenbar LE JARDIN DES SUPPLICES (DER GARTEN DER QUALEN, 1899) gelesen, ein Machwerk des französischen Journalisten Octave Mirbeau, das wegen einiger pornographischer Passagen nur unter der Ladentheke gehandelt wurde. Doch was Kafka aus diesem heimlichen, wenngleich schon ein wenig angestaubten Bestseller aufnahm, war kaum mehr als ein erzähltechnischer Kunstgriff, der die sachverständige Beschreibung der Folter überhaupt erst ermöglichte: die Figur des europäischen Reisenden nämlich, der teils fasziniert, teils angewidert die sadistischen Strafpraktiken einer zivilisationsfernen Insel besichtigt. Im Gegensatz zu der bemühten Exotik, die Mirbeau aus dieser Konstellation herauspresst, ist jedoch Kafka sichtlich an Abstraktion interessiert, und indem er {557} den Leser durch die Augen eines Beobachters blicken lässt, zwingt er ihn, selbst die Rolle des neutralen Zeugen einzunehmen. Eine kalte Distanz stellt sich ein, die den Leser vor sich selbst erschauern lässt. Mit wem soll er sich identifizieren? Mit dem Henker (dem ›Offizier‹) gewiss nicht, der ja nicht einmal einem nachfühlbaren Impuls des Hasses folgt, sondern einem juridischen Wahn. Mit dem Reisenden? Der starrt auf das Blut, das hier vergossen wird, zeigt aber wenig Anteilnahme und scheut jede Verantwortung. Und das Opfer ist stumpfsinnig, verwahrlost und »hündisch ergeben«.
    Menschenfern ist dieses Szenario, und doch tut Kafka alles, um ein Ausweichen des Blicks unmöglich zu machen. Die Kargheit der Beckettschen Bühne scheint hier um Jahrzehnte vorweggenommen: Außer dem Vorgang selbst gibt es nichts als Licht, das von einem am Himmel aufgehängten Scheinwerfer erbarmungslos herabbrennt. Die Verrichtungen wiederum vollziehen sich so planvoll und systematisch, dass es des menschlichen Eingriffs gar nicht mehr bedarf. Kafkas ungeheuerlicher Einfall, die Prozedur der Folter einer programmierbaren Maschine zu überlassen, während der Henker nur noch für die Pflege der Software zuständig ist (deren Quellcode er allein versteht), wirkt selbst heute, da die Verwirklichung unschwer möglich wäre und Industrieroboter noch weit diffizilere Aufgaben erledigen, als ein kaum zu überbietendes Fanal der Unmenschlichkeit.
    Auch die entlastende Vorstellung, es handele sich um einen vielleicht nur symbolisch gemeinten Vorgang, um eine negative Utopie oder ein freischwebendes Gedankenspiel, hat Kafka seinen Lesern verwehrt: Allein schon die krasse, schattenlos ausgeleuchtete Körperlichkeit, welche die Todes- und Verwesungsbilder des Expressionismus weit überbietet, verstellt jede Ausflucht. Die menschliche Physis erscheint hier nur noch als Schmutz: Von Speichel ist die Rede, von Blut, von Erbrochenem, das – wie der Henker empört feststellt – den blanken Stahl seiner Maschine »verunreinigt«. Metall, das in den lebendigen Leib eindringt: eine Vision, die den Zeitgenossen der ersten Kriegsmonate häufig vor Augen stand und an die sie sich eben zu gewöhnen begannen. Kafka jedoch, der Unfallexperte, der schon viel länger und genauer wusste, wie Maschinen den Körper des Menschen zurichten können, durchbricht auch die Schranke des Ekels (die er in der VERWANDLUNG bereits gestreift hatte) und stößt vor bis an jene Grenze, wo die literarische Sublimation endet und das Unsägliche beginnt.
    Diese Grenze ist heute weniger eng gezogen, und längst ist weitaus härterer Stoff – literarischer, bildnerischer, zu schweigen von den Zumutungen des Kinos – gedeckt von der Freiheit des Ästhetischen. Dennoch sind Vorbehalte gegen Kafkas STRAFKOLONIE auch heute noch spürbar, und der Verdacht, es handele sich weniger um eine Erzählung als vielmehr um einen geplanten Exzess, hat sich, nachdem die Schockwirkung abgeklungen war, sogar noch verstärkt. Tatsächlich scheint die STRAFKOLONIE ihren Charme eher im literaturwissenschaftlichen Seminar zu entfalten. Denn Kafkas beispiellose Engführung so bedeutungsgesättigter Begriffe wie ›Technik‹, ›Leib‹, ›Schrift‹, ›Macht‹, ›Gerechtigkeit‹ ist eine

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