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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Gemeinde auftrat, durch Nichterscheinen hatte demonstrieren können, was man von dieser mauschelnden Sippe hielt, war ein Ausweichen diesmal unmöglich. Bezeichnend für den mehr als kühlen Empfang ist ein bilanzierender Bericht des Gemeindepräsidenten, der formuliert ist, als stamme er aus der Feder eines Gutsverwalters: Ohne die sozialen und sprachlichen Reibungsflächen auch nur mit einem Wort zu erwähnen, rechnet er den Lesern der Selbstwehr die Kosten vor, welche die »konservativen Juden« der Prager Gemeinde aufbürden: bis auf den letzten Heller. [535]  
    Die lebendige Tradition innerjüdischer Solidarität gab vorläufig jedoch den Ausschlag, und es lebte in Prag wohl keine deutschjüdische Familie, der das Flüchtlingsproblem nicht irgendeinen Beitrag abverlangte. Unablässig kreisten die Sammelbüchsen, und wer sich in der Synagoge nicht blicken ließ, an dessen Tür klopften die jungen ›Blau-Weißler‹, die mit Handkarren alte Kleider und Decken abtransportierten. Auch die weitgehend akkulturierten Juden konnten sich diesem Druck nicht entziehen, und viele, denen es niemals in den Sinn gekommen wäre, anstelle des Deutschen Theaters eine jener schrillen Jargonvorstellungen im Café Savoy aufzusuchen, erfuhren jetzt, dass die schäbigen ostjüdischen Schauspieler keineswegs die letzten Vertreter einer aussterbenden Spezies gewesen waren, sondern Repräsentanten eines höchst vitalen und zahlreichen Volks. Der Osten war nach Prag zurückgekehrt, diesmal jedoch nicht als Folklore.

    Kafka muss eine gewisse Genugtuung darüber verspürt haben, dass endlich auch seine eigene Familie in ihrer ›westjüdischen‹ Selbstgefälligkeit erschüttert wurde. Einhundert Paar Mädchenstrümpfe hatte der Galanteriewarenhändler Hermann Kafka spendiert, ansonsten hielt man Distanz. Doch mit Almosen und abfälligen Bemerkungen allein waren die Ostjuden diesmal nicht abzutun. Denn erstaunlicherweise waren diese Leute durch keine der Errungenschaften, welche die Stadtjuden in langjähriger bewusster Anpassung sich verschafft hatten, nachhaltig zu beeindrucken. Gewiss, auch die galizischen Kinder drückten sich die Nasen platt an den Schaufenstern der Prager Innenstadt. Doch ihre Eltern sahen keinerlei Anlass, das Prager Deutsch zu erlernen oder sich den Hygienevorstellungen ihrer bürgerlichen Wohltäter anzupassen. Lieber nahmen sie gar nichts zu sich als Fleisch, das nicht aus ritueller Schlachtung stammte, und schenkte man ihnen Geschirr, so bedankten sie sich, erklärten aber mit der größten Ruhe, dass sie alles doppelt brauchten: ›milchiges‹ und ›fleischiges‹ Geschirr, wie es für Juden eben selbstverständlich war.
    Kafka hat den kulturellen Schock, den die Autarkie und Unbeeindruckbarkeit der Ostjuden auslöste, sehr genau registriert. Ottla, die Familie Weltsch und andere zionistische Bekannte werden ihm manches davon berichtet haben, und da auch Brod und dessen Eltern sich an den humanitären Maßnahmen organisatorisch und handgreiflich beteiligten, bot sich ihm Gelegenheit, den Zusammenprall der Kulturen aus nächster Nähe zu beobachten.
»Gestern in der Tuchmachergasse, wo die alte Wäsche und Kleidung an die galizischen Flüchtlinge verteilt wird. Max, Frau Brod, Herr Chaim Nagel. […] Die kluge lebhafte, stolze und bescheidene Frau Kannegiesser aus Tarnow, die nur zwei Decken wollte, aber schöne, und die doch nur, trotz Maxens Protektion alte und schmutzige bekommen hat, während die neuen guten Decken in einem separaten Zimmer lagen, in dem überhaupt alle guten Stücke für die bessern Leute aufbewahrt werden. Man wollte ihr die guten auch deshalb nicht geben, weil sie sie nur für 2 Tage brauchte, ehe ihre Wäsche von Wien kam und weil man gebrauchte Stücke wegen der Choleragefahr nicht zurücknehmen darf. – Frau Lustig mit vielen Kindern aller Grössen und einer kleinen frechen, selbstsichern beweglichen Schwester. Sie sucht ein Kinderkleidchen solange aus, bis Frau Br. sie anschreit: ›Jetzt nehmen Sie aber schon endlich dieses oder Sie bekommen keines.‹ Nun antwortet aber Fr. Lustig mit noch viel grösserem Schreien und schliesst mit einer großen {570} wilden Handbewegung: ›Die Mizwe ist doch mehr wert als diese ganzen Schmatten (Hadern).‹«
    Auf Hochdeutsch: Dass Sie mir Gutes tun dürfen, sollte Ihnen wertvoller sein als mir Ihre Fetzen. [536]   Das saß. Unverkennbar ist Kafkas leise Schadenfreude angesichts dieser Schlagfertigkeit, unverkennbar aber auch der

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