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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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staunende, bewundernde Blick, den er auf diese lebhaften und alles andere als unterwürfigen Gesten richtet. Es ist derselbe Blick, den er einst auf Löwy und dessen Ensemble warf: Er sieht das Lächerliche, den Schmutz, die Unbildung, doch er sieht auch eine Würde, die dies alles überwölbt und unangreifbar macht.
    Nicht nur die akkulturierten ›Dreitagejuden‹ und die Vertreter der jüdischen Gemeinde, auch die Prager Zionisten sahen sich durch den Zustrom der Flüchtlinge in Verlegenheit gesetzt. Ihre eigene Position gegenüber den Ostjuden, deren Alltag sie aus eigener Anschauung zumeist gar nicht kannten, war ja durchaus zwiespältig. Wer es mit dem offiziellen, straff organisierten Zionismus hielt, dessen große Bühne zuletzt der Kongress von Wien gewesen war, hielt das ›Mauscheljudentum‹ ohnehin für eine Degenerationserscheinung, welche die Einigung der Juden erschwerte und die allenfalls Mitleid verdiente. Viele Kulturzionisten hingegen, die unter dem Einfluss Bubers und Birnbaums standen, hatten das ostjüdische Leben poetisch verklärt und wurden jetzt zurückgeholt auf den Boden der politischen und kulturellen Tatsachen. Man hatte es hier durchaus nicht mit reinen Seelen zu tun, die darauf warteten, unter Anleitung von Prager Studenten zu einer jüdischen Nation geformt zu werden. Es waren Menschen, die beherrscht waren von jüdischer Orthodoxie, von den mystischen Strömungen des Chassidismus und von krudestem Aberglauben. Sie blieben unter sich, fürchteten den Einfluss westlicher Sittenlosigkeit auf ihre Kinder und beobachteten nur mit tiefstem Misstrauen die zionistischen Gesten der Umarmung.
    Denn sie verstanden sie nicht. Sie verstanden nicht die Rede von einer angeblichen Substanz der jüdischen Seele, die über alle äußeren Unterschiede hinweg die Einheit des jüdischen Volks begründen sollte. Und nur mit Kopfschütteln vernahmen sie, dass der ›Jargon‹, die Sprache, in der sie lebten, germanischen Ursprungs sei und sie selbst darum ein östlicher Vorposten der deutschen Kultur. Das war um drei Ecken gedacht, das war Krampf. Und mit dem Gesetz und der Schrift hatte es schon gar nichts zu tun.
    Es war die härteste Probe, die der Prager Zionismus bisher zu bestehen hatte, und schon in den wenigen Sätzen, die Kafka dem Konflikt widmet, wird deutlich, dass an Verständigung hier kaum zu denken war. Selbst eine Reihe gut gemeinter und stark besuchter Diskussionsabende, die der Jüdische Volksverein zum Thema ›Ost und West‹ durchführte und an denen auch Brod als Redner auftrat, brachten keine Annäherung, und mit scharfem Auge beobachtete Kafka, wie sein sonst so eloquenter Freund nervös wurde und allmählich in die Defensive geriet.
»Die Verachtung der Ostjuden für die hiesigen Juden. Die Berechtigung dieser Verachtung. Wie die Ostjuden den Grund dieser Verachtung kennen, die Westjuden aber nicht. Z. B. die grauenhafte alle Lächerlichkeit übersteigende Auffassung, mit der die Mutter ihnen beizukommen sucht. Selbst Max, das Ungenügende Schwächliche seiner Rede, Rockaufknöpfen, Rockzuknöpfen. Und hier ist doch guter und bester Wille. Dagegen ein gewisser Wiesenfeld, zugeknöpft in ein elendes Röckchen, einen Kragen, der nicht mehr schmutziger werden kann als Festkragen angezogen, schmettert Ja und Nein, Ja und Nein. Ein teuflisches unangenehmes Lächeln um den Mund, Falten im jungen Gesicht, Bewegungen der Arme, wild und verlegen. Der Beste aber der Kleine, der ganz aus Schulung besteht, mit spitzer, keiner Steigerung fähiger Stimme, die eine Hand in der Hosentasche, mit der andern gegen die Zuhörer bohrend unaufhörlich fragt und gleich das zu Beweisende beweist. Stimme eines Kanarienvogels. Füllt mit dem Filigran der Rede bis zu Qual eingebrannte labyrintartige Rinnen aus. Werfen des Kopfes. Ich wie aus Holz, ein in die Mitte des Saales geschobener Kleiderhalter. Und doch Hoffnung.« [537]  
    Was Brod und einige andere Prager Redner vorgebracht hatten, war dann in der Selbstwehr nachzulesen: Zwischen Zionismus und religiöser Tradition, so behaupteten sie, bestehe doch gar kein Widerspruch. Das war nicht nur »schwächlich«, das war schlichtweg falsch, und wenn die jungen, chassidischen Fanatiker tatsächlich so gut geschult waren, wie Kafka vermutete, wird es ihnen nicht schwer gefallen sein, ihren Gastgebern die passenden religionsfeindlichen Aussprüche Herzls um die Ohren zu schlagen. Es half auch nichts, dass bei einer weiteren Veranstaltung – wieder saß

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