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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Kafka stumm im Saal – der aufgeregte Brod sich zusammennahm und nun vorsichtiger von einer Synthese sprach, die zwischen Zionismus und religiöser Tradition erst herzustellen sei. Wozu?, konnte man ihm entgegnen. Die in Gesetz, Tradition und Erinnerung verankerte Gemeinschaft, die Brod so salbungsvoll beschwor, war doch ein Problem nur für die angepassten {572} und dekadenten Westler: Sie waren es, die sich an solchen Vorstellungen gern erwärmten. In Galizien und Polen hingegen war es der Alltag von zweieinhalb Millionen Menschen, hier hatte man keinen Bedarf an ›Synthesen‹.
    Dass die ostjüdischen Redner nicht wirklich diskutierten, dass sie vielmehr allem, was Brod einwandte und noch weiter hätte einwenden können, nicht Argumente, sondern religiöse Gewissheiten und letztlich sich selbst entgegenhielten – das alles entging Kafka nicht, und es ist wohl auch der Grund dafür, dass er im Tagebuch auf den inhaltlichen Kern der Auseinandersetzung mit keinem Wort eingeht. Es war der Mühe nicht wert, denn um Argumente ging es nicht, es ging um Identität – eine Identität, die nicht erstritten, die vielmehr in Körper und Sprache eingewurzelt war. Staunend, ohne jede Ironie beobachtete Kafka »die Art wie die Ostjüdinnen parteiisch sich entzücken«: Sie bejubelten diejenigen, die zu ihnen gehörten, ganz gleich, ob sie mit Fistelstimme in den Saal schrien, schmutzige Krägen trugen oder sich wiederholten, bis es wehtat. Sie machten sich keine Gedanken über ›Gastvolk‹ und ›Wirtsvolk‹, und sie brauchten nicht die ›jüdische Nation‹, da sie doch die Gemeinschaft hatten. Sie kannten nicht die Qual des Einerseits/Anderseits, die unendliche Reflexion des losgelösten Einzelnen. Gewiss, auch sie zahlten einen Preis: Da gab es genug Starrsinn, Beschränktheit, Obskurantismus. Doch was Kafka von diesen Bildern vor allem im Gedächtnis blieb, war »das selbstverständliche jüdische Leben«, die Unausdenkbarkeit des Selbstverständlichen . [538]  
    Brod hat dies gewiss ähnlich empfunden, wenngleich er, wie die meisten Prager Zionisten (doch im schroffen Gegensatz zu Kafka), den Blick lieber abwandte von Gegensätzen, die unüberbrückbar blieben. [539]   Für ihn war es vor allem das Beisammensein mit den zahlreichen ostjüdischen Kindern und Jugendlichen, das ihm Jahrzehnte später, als er seine Erinnerungen verfasste, am angenehmsten vor Augen stand. Es waren jüdische ›Notschulen‹ gegründet worden – wiederum aufgrund privater Initiativen und mit Spenden der B’nai-B’rith-Logen –, die den Flüchtlingskindern einen wenigstens rudimentären Unterricht gewährleisten sollten. Unter etwa einhundert Freiwilligen hatten sich auch Brod und seine Frau zur Verfügung gestellt: Elsa unterrichtete Handarbeiten, Max war zuständig für ›Weltliteratur‹. Getreu der Devise Bubers, man müsse die Ostjuden vorsichtig {573} an westliche Bildungsstandards heranführen, sprach Brod vor 15- bis 19-jährigen galizischen Mädchen über die Werke Homers, Dantes und Shakespeares, und er behandelte biblische Stoffe als literarische . Natürlich brachte ihm das wiederum Proteste strenggläubiger Väter ein. Unerhört fanden sie es, dass ihre Töchter mit religiösen Inhalten konfrontiert wurden, die über die Kenntnis des Ritus hinausgingen: Schließlich war das jüdische ›Lernen‹ von alters her Sache der Männer. Doch diesmal reagierte Brod etwas gewitzter und sprach von den Versuchungen, denen die Kinder der Chassidim im Westen ausgesetzt seien: »Wenn Ihre Töchter nichts vom Judentum wissen, was soll sie bewegen, nicht von uns wegzugehen?« [540]  
    Zweifellos entsprachen die Naivität, die Wissbegier und Aufmerksamkeit der galizischen Kinder am ehesten dem kulturzionistischen Traum vom unverbildeten jüdischen Menschen. Das waren Wesen, in die man sich hineinträumen durfte, ohne über kulturellen Synthesen und geistigen Substraten brüten zu müssen, und auch Kafka konnte sich kaum satt sehen an den scheuen, doch selbstbewussten und schönen Gesichtern: »olivenbraun, gewölbte gesenkte Augenlider, tiefes Asien«. [541]   Es war, als verspürte er Beruhigung, ja Heilung angesichts dieser fernen Generation, die inmitten eines Ozeans von Gewalt ihre kindliche Würde zu wahren verstand und die den Schlüssel zu besitzen schien zu einer anderen Welt. Des Öfteren besuchte er Brod bei seinem Unterricht, streckte die langen Beine unter einer Schulbank aus (natürlich in der letzten Reihe) und nahm

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