Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
auch an einigen der Ausflüge teil, welche die Lehrer mit den Kindern unternahmen. Offenbar wirkte der stille, stets lächelnde Herr Doktor vertrauenerweckend, denn es wurden Beziehungen geknüpft, die auch noch das folgende Jahr überdauerten: etwa zu einem »Fräulein Fanni Reiß« aus Lemberg, dessen Eltern Kafka besuchte und das er in die städtische Lesehalle und einmal gar ins Theater führen durfte. Vertrautsein mit einer jungen, ostjüdischen Frau: Es war – er ahnte es nicht – der Vorschein einer unausdenkbaren Zukunft.
Indessen blieben für die überwältigende Mehrzahl der Prager Deutschjuden die kulturellen Schranken unüberwindlich. Selbst unter den großzügigen Spendern fanden sich nur wenige, die bereit waren, das soziale Visier zu öffnen und sich auf Bekanntschaften oder gar Freundschaften einzulassen. Überdies machte sich bereits nach wenigen Monaten ein fataler sozialpsychologischer Reflex bemerkbar: {574} Das Unglück des Einzelnen rührt, das Elend der Masse weckt Abwehr, ja Abscheu. Es ist nicht schwierig, Gefühle der Solidarität zu wecken, wenn der Gebende weiß oder gar sinnlich erfährt, in wessen Hände seine Gabe gelangt und welche konkrete Wohltat sie bedeutet. Um jedoch die Versorgung einer anonymen, ständig wachsenden Menschenmenge zu bewältigen, genügt es nicht mehr, dass Wolldecken von Hand zu Hand gehen; hier müssen die Spender eine gleichsam administrative Haltung einnehmen, die von den Bedürfnissen und Eigenschaften einzelner Empfänger (vor allem von den befremdlichen oder unangenehmen) vollständig absieht – eine Leistung, die nur wenige erbringen. Überdies war die Neugier der Prager auf die unglaublichen Geschichten, welche die Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet mitbrachten, schon bald erschöpft: Die Szenarien wiederholten sich, und man hatte genug eigene Kriegssorgen.
So kam es, dass der Strom der Spenden genau dann zu versiegen begann, als nicht mehr Waggons, sondern ganze Sonderzüge mit vertriebenen Ostjuden einrollten. Es kam vor, dass inmitten des reichen Prag – reich in den Augen der Galizier – Familien auf der nackten Erde schliefen, weil sich nicht einmal Strohsäcke auftreiben ließen, und die bettelnden Kinder, die man jetzt immer häufiger sah, stießen auf zunehmend aggressive Passanten. »Wir bitten jeden, der menschlich fühlt, flehentlich um Hilfe«, hieß es Ende 1914 in der Selbstwehr , doch auch dieser letzte Notruf des ›Hilfskomitees der Israelitischen Kultusgemeinde‹ fruchtete wenig. Noch ehe auch nur die Hälfte der erforderlichen Spenden gesammelt war, hatte sich die Zahl der Ankömmlinge erneut verdoppelt, und der Gemeinde blieb nichts anderes mehr übrig, als dem böhmischen Statthalter die Erschöpfung ihrer Mittel zu melden. Am 18.Januar 1915 wurde durch Erlass des Innenministeriums die Stadt Prag für Flüchtlinge gesperrt.
Sperrung und Abschub. Das Ende des ›Burgfriedens‹. Oder besser: das Ende eines Propagandaslogans, der den Anlass seiner Beliebtheit kaum um Wochen überdauerte. In Wien und Budapest galt die freie Wahl des Wohnorts schon seit Dezember nicht mehr. Konkret hieß das: Weitere Flüchtlinge, die hier ankamen, wurden zwangsweise in Dörfer transportiert oder in Lager, für die sich allmählich der Begriff ›Konzentrationslager‹ einbürgerte.
Dass ein kriegführender Staat Tausende seiner Bürgerinnen samt {575} ihrer Kinder interniert, deren Ehemänner und Väter zur selben Zeit Kriegsdienst leisten – es ist dies ein Vorgang, der in der politischen Geschichte Europas vor 1933 wohl keine Parallele findet. Ein Schleier des Unwissens liegt darüber bis heute, und auch in den Zeugnissen der Prager Zeitgenossen überlagert die kulturelle Auseinandersetzung die soziale Katastrophe. In Kafkas nächster Umgebung aber müssen sich verzweifelte Szenen abgespielt haben. Und falls er noch immer der Gewohnheit anhing, am frühen Abend durch den Staatsbahnhof zu schlendern – die Tagebücher verraten nichts darüber –, so fand er sich dort nicht mehr in einem Brennpunkt der Urbanität, der ihn wohltuend an Berlin erinnerte, sondern an einem schmutzigen, überfüllten Umschlagplatz des Krieges. Züge mit Verwundeten. Züge mit Flüchtlingen. ›Die Wacht am Rhein‹ sang hier schon lange niemand mehr.
Die Sperrung von Prag aber blieb in Kraft – auch, nachdem im Lauf des Jahres 1915 die große Mehrzahl der Vertriebenen die Stadt wieder verlassen hatte, und erst recht, als 1916 eine neue Welle des Elends von
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