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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Galizien nach Westen übergriff. Da Prag als Landeshauptstadt dem nicht unbeteiligt zusehen konnte, ließ man sich herbei, eine Ausnahme zu machen, befristet und streng kontingentiert. Eingelassen wurden jetzt 3500 neue Flüchtlinge: handverlesen, und allesamt Christen.

{576} Die Große Störung
Eigne den Stolz dir an, den durch Verdienst du erwarbst.
Horaz, CARMINA
»Es hat sich Felice zwischen uns, soweit es mich betrifft, im letzten Vierteljahr nicht das geringste geändert nicht in gutem und nicht in schlechtem Sinn. Ich bin natürlich auf Deinen ersten Anruf bereit und hätte Deinen frühern Brief, wenn er angekommen wäre, gewiss und gleich beantwortet. Ich habe allerdings nicht daran gedacht Dir zu schreiben – im Askanischen Hof war die Wertlosigkeit von Briefen und allem Geschriebenen zu deutlich geworden – aber da mein Kopf (auch in seinen Schmerzen und gerade heute) der alte geblieben ist, hat es ihm an Gedanken und Träumen, die von Dir gehandelt haben, nicht gefehlt und das Zusammenleben, das wir in meinem Kopfe geführt haben war nur manchmal bitter, meistens aber friedlich und glücklich. […]
Vor allem aber dachte ich deshalb nicht daran, zu schreiben, weil mir wirklich das Wichtigste in unserer Beziehung klar schien. Du warst schon seit langem im Irrtum, wenn Du Dich so oft auf Unausgesprochenes beriefst. Es hat nicht an Aussprache, aber an Glauben gefehlt. Weil Du das was Du hörtest und sahst, nicht glauben konntest, dachtest Du es wäre Unausgesprochenes vorhanden. Du konntest nicht die Macht einsehn, die meine Arbeit über mich hat, Du sahst sie ein, aber bei weitem nicht vollständig. Infolgedessen musstest Du alles, was die Sorge um diese Arbeit nur die Sorge um diese Arbeit, an Sonderbarkeiten in mir hervorrief, die Dich beirrten, unrichtig deuten. Nun traten aber ausserdem diese Sonderbarkeiten, (zugegebener Weise abscheuliche Sonderbarkeiten, mir selbst am widerlichsten) Dir gegenüber stärker auf als jemandem sonst. Das war sehr natürlich und geschah nicht nur aus Trotz. Sieh, Du warst doch nicht nur der grösste Freund, sondern gleichzeitig auch der grösste Feind meiner Arbeit, wenigstens von der Arbeit aus gesehn, und sie musste sich deshalb ebenso, wie sie Dich in ihrem Kern über alle Grenzen liebte, in ihrer Selbsterhaltung mit allen Kräften gegen Dich wehren. Undzwar in jeder Einzelheit. […]
Es waren und sind in mir zwei, die mit einander kämpfen. Der eine ist fast {577} so wie Du ihn wolltest und was ihm zur Erfüllung Deines Wunsches fehlt, das könnte er durch weitere Entwicklung erreichen. Nicht einer Deiner Vorwürfe im Askanischen Hof bezog sich auf ihn. Der andere aber denkt nur an die Arbeit, sie ist seine einzige Sorge, sie macht, dass ihm die gemeinsten Vorstellungen nicht fremd sind, der Tod seines besten Freundes würde sich ihm zuallererst als ein wenn auch vorübergehendes Hindernis der Arbeit darstellen, der Ausgleich zu dieser Gemeinheit liegt darin, dass er für seine Arbeit auch leiden kann. Die zwei kämpfen nun, aber es ist kein wirklicher Kampf, bei dem je zwei Hände gegeneinander losschlagen. Der erste ist abhängig vom zweiten, er wäre niemals, aus innern Gründen niemals, imstande ihn nieder zu werfen, vielmehr ist er glücklich, wenn der Zweite glücklich ist und wenn der Zweite dem Anschein nach verlieren soll, so kniet der Erste bei ihm nieder und will nichts anderes sehn, als ihn. So ist es Felice. Und doch kämpfen sie miteinander und doch könnten beide Dir gehören, nur ändern kann man nichts an ihnen, ausser man zerschlägt beide.« [542]  
    Ändern kann man nichts. Es war nicht das erste Mal, dass Felice Bauer dies hören musste. Geändert hat sich nichts: Da täuschte er sich oder sie. Denn noch niemals zuvor hatte er so deutliche Grenzen gezogen, und zu ihrer größten Überraschung musste nun die Braut, die ehemalige Braut, seine nahezu ungefilterten, von aller Diplomatie der Liebe entkleideten Vorwürfe ertragen. Die demütigende Indiskretion im Askanischen Hof, die Kafka auch nach einem Vierteljahr noch nicht verziehen hatte, die Wohnungseinrichtung, die sie ihm hatte zumuten wollen – das alles kam jetzt ausführlich zur Sprache. Noch niemals, nicht einmal im Tagebuch, hatte er mit solcher Ruhe und Bestimmtheit erklärt, was er konnte, nicht konnte, wollte und nicht wollte. Kafka nahm sich Zeit für zwanzig Briefseiten.
    Diesen neuen, beharrlichen Gegendruck hatte auch Grete Bloch schon zu spüren bekommen, die Mitte Oktober

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