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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Lindström A. G., wo sie – verfrüht, wie sich zeigte – eine glänzende Stellung gekündigt hatte und nun darum bitten musste, bleiben zu dürfen: Genug für ein einziges Jahr, sollte man meinen. Nichts deutete darauf hin, dass ihr der schlimmste Schlag noch bevorstand.
    Am 5.November, wahrscheinlich am selben Tag, an dem sie Kafkas umfängliche Denkschrift erhielt, starb Felices Vater Carl im Alter von nur 58 Jahren. Die genauen Umstände sind nicht überliefert, doch es war ein jäher und schneller Tod, ein Infarkttod, auf den niemand vorbereitet war.
    Auch an Carl Bauer können die ständigen Zerreißproben, denen seine Familie ausgesetzt war, nicht ohne Wirkung vorübergegangen sein, und da sein laisser-faire gerade in schlimmen Zeiten zu immer neuen Ehestreitigkeiten führte, hatte er jedes Unglück doppelt zu tragen. Der Fehltritt seiner Tochter Erna war ihm offenbar noch zu Ohren gekommen, ohne dass er darum die moralische Fassung verloren hätte: »Nichts war ihm fremd«, schrieb sie dankbar, »war er auch nicht mehr jung, so hatte er nie vergessen, daß er einmal jung und voll heißen, übermütigen Blutes gewesen ist, darum hatte er ein so großes Verstehen für all die Schwächen und Fehler seiner Kinder.« [548]   Felices Missgeschick ging ihm gewiss nahe, sogar eine Geschäftsreise hatte er abgebrochen, um zu retten, was zu retten war – dennoch, Felice war stark, sie würde sich zu helfen wissen, und schließlich war nichts geschehen, was nicht unter glücklicheren Umständen wieder gutzumachen war. Der Abschied vom einzigen Sohn hingegen – ein Abschied für immer, wie er sich sagen musste – war eine Lebenskatastrophe, die durchaus vergleichbar war mit dem sozialen Trauma der gefallenen Söhne, das jetzt zahllose Menschen seiner Generation gefrieren ließ. {582} Und sollte es tatsächlich den ›Tod an gebrochenem Herzen‹ geben, so hatte Carl Bauer spätestens seit Frühjahr 1914 ein signifikant erhöhtes Risiko.
    Doch der Tod wird im Krieg zur fahlen Gewohnheit, er haust in beinahe jeder Familie, die Anteilnahme am Tod anderer ist gedämpft, die Zeit öffentlicher und privater Trauer verkürzt. Wo viel gestorben wird, bleiben die Hinterbliebenen mit sich allein. Überdies drängt sich der Gedanke an den Krieg auch in den friedvollen Tod, der jetzt an Bedeutung zu verlieren droht. »Wahrscheinlich hat auch bei diesem Todesfall der Krieg viel verschuldet«, schrieb Kafkas Mutter in ihrem Kondolenzbrief, »denn die täglichen großen Aufregungen legen sich nicht in die Kleider«. Und sie fügte einen wahren, wenngleich nicht eben tröstlichen Satz hinzu, den sie zu Friedenszeiten gewiss unterlassen hätte: »wenn man sich alles wohl überlegt, ist das Sterben nicht das Ärgste«. [549]  

    Für Kafka konnte die Nachricht zu keinem unglücklicheren Zeitpunkt kommen. Eben noch hatte er Felice beschworen, ihm zu antworten, ja, er bat sie sogar, das Eintreffen seines Riesenbriefs telegraphisch zu bestätigen. Als dieses Telegramm aber eintraf, enthielt es eine ganz andere Botschaft und stieß ihn zurück in das Selbstgespräch, das er nun seit Monaten schon führte. Denn in Berlin hatte man jetzt andere Sorgen.
    Es war die härteste Bewährungsprobe, die sein neuer Selbst-Mythos zu bestehen hatte, kaum dass Kafka den Rohbau errichtet und bezogen hatte. Wäre jene Todesnachricht ein Jahr zuvor eingelangt, er hätte sich in Schuldgefühlen verzehrt. Jetzt hingegen suchte er sogleich den Begriff und das zugehörige Bild, um das Unglück aus der Mühle nutzloser Selbstanklagen hervorzuziehen und es in einen objektiven, irgendwie sinnhaften Vorgang zu verwandeln. Kafka suchte eine Deutung, die seine neu gewonnene Autonomie unangetastet ließ, und diese Deutung ließ nicht lange auf sich warten.
»Mein Verhältnis zu der Familie [Bauer] bekommt für mich nur dann einen einheitlichen Sinn, wenn ich mich als das Verderben der Familie auffasse. Es ist die einzige organische, alles Erstaunliche glatt überwindende Erklärung, die es gibt. Es ist auch die einzige tätige Verbindung, die augenblicklich von mir aus mit der Familie besteht, denn im übrigen bin ich gefühlsmässig gänzlich von ihr abgetrennt, allerdings nicht durchgreifender, als vielleicht von der {583} ganzen Welt. (Ein Bild meiner Existenz in dieser Hinsicht gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer grossen Ebene in

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