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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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vorsichtig anklopfte, ausgerechnet während Kafkas Urlaub und in der vielleicht produktivsten Woche seines Lebens. Offenbar sprach sie von Felice – Genaueres lässt sich nicht erschließen – und betrat damit sein Leben erneut durch jene Tür, durch die sie es verlassen hatte: als Mittlerin. Dass Kafka eben jetzt an einem Roman arbeitete, der die tiefe Vergeblichkeit jeder Fürsprache erwies – und die unheilbare Pein dessen, der sich durch Fürsprache zu retten sucht –, konnte sie freilich nicht ahnen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, sie wollte etwas gutmachen. Doch Kafka dachte nicht daran, sie freizusprechen.
»Ihr Brief überrascht mich sehr. Es überrascht mich nicht, dass Sie mir schreiben. Warum sollten Sie mir nicht schreiben? Sie sagen zwar, dass ich Sie hasse es ist aber nicht wahr. Wenn Sie alle hassen sollten, ich hasse Sie nicht und nicht nur deshalb, weil ich kein Recht dazu habe. Sie sassen zwar im Askanischen Hof als Richterin über mir – es war abscheulich für Sie, für mich, für alle – aber es sah nur so aus, in Wirklichkeit sass ich auf Ihrem Platz und habe ihn bis heute nicht verlassen.« [543]  
    Sorgfältig, beinahe demonstrativ vermeidet Kafka jedes zweifelnde oder fragende Wort, das womöglich zum Anlass weiterer Näherungsversuche dienen könnte; kühl wie polierter Stein sind diese Sätze. Darüber hinaus aber – schon Canetti hat darauf hingewiesen – enthält der Brief eine unterschwellige Botschaft, die unmöglich zu überhören war: den Bescheid, dass Grete Bloch von ihrem Richteramt abgesetzt ist und dass es kein äußeres Gericht mehr gibt, das Kafka anerkennt. [544]   Womit zugleich die Rolle, die sie in seinem Leben noch zu spielen glaubt, so bedeutungslos wird, dass nicht einmal mehr Grund bleibt zum Hass. Es ist kein Wunder, dass Grete Bloch eine ganz Woche braucht, um darauf eine Antwort zu finden. Doch es gelingt ihr letztlich nicht, die Korrespondenz neu zu beleben.
    Wie erfolgreich Kafka mittlerweile aus Schwächen Stärken machte, wie fugenlos er alte psychische Reflexe, die einstmals ganz und gar defensiver Natur waren, in eine neue, selbstbewusstere Identität einzuschmelzen verstand – es ist ein erstaunlicher Anblick und ein Vorgang von allerhöchster Bedeutsamkeit. ›Sag’ gegen mich, was du willst, du kannst mich doch nicht kleiner machen, als ich mich selbst schon mache.‹ Mit diesem Habitus hatte Kafka es über lange Zeit verstanden, jegliche Kritik zu unterlaufen – um den Preis, dass der allzu häufige Gebrauch diese Waffe stumpf machte und allmählich, für jeden sichtbar, die Gefühle der Minderwertigkeit durchzuscheinen begannen, die jenem Habitus zugrunde lagen. ›Ich brauche keinen Richter, denn das bin ich selbst.‹ Die Aussage ist im Grunde die gleiche. Doch sie erscheint jetzt gewissermaßen umgestülpt, und ihre Stacheln weisen nach außen. Während Kafkas selbstironische, bisweilen charmante Zerknirschung schon immer an das Verhalten gewisser Angeklagter erinnerte, ist der Richter eine Gestalt, die Ehrfurcht einflößt. Kafka errichtet einen Mythos des eigenen Wesens, mit dem er leben kann und der seine Selbstachtung nicht nur heilt, sondern sogar noch stärkt: Denn er ist stolz auf sein Richteramt. Und er erfindet einen {579} Mythos im buchstäblichen Sinn des Wortes: Bild, Geschichte und Erklärung in einem. Das Bild kennt Kafka schon länger, es ist der ›Gerichtshof‹. Die Geschichte, die sich hier abspielt, erzählt er im PROCESS. Und der Mythos vom inneren Richteramt erklärt, warum Kafka leiden muss und warum dieses Leiden nicht sinnlos ist, wie er einst glaubte, sondern notwendig. Es ist ein privater Mythos , in dem sich Kafka wohnlich einzurichten beginnt.
    Mit genau denselben Mitteln behauptet er sich nun auch gegen Felice. Dieses Schwanken, diese ewige Unentschiedenheit … er hatte sie gleich zu Beginn in so grellen Farben gemalt, dass er sich vor diesem Vorwurf für eine Weile sicher wähnen konnte: »Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht. Wenn ich auf der Stiege oben bin, weiß ich noch immer nicht in welchem Zustand ich sein werde, wenn ich in die Wohnung trete.« [545]   Das war witzig, und es dauerte lange, ehe Felice Bauer begriff, dass es außerdem die Wahrheit war. Im Askanischen Hof endlich platzte sie damit heraus, denn alle diese Selbstbezichtigungen, so fand sie, vermochten doch nicht das Geringste zu entschuldigen.
    Jetzt, fast vier Monate nach diesem Debakel, hat Kafka eine überraschende

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