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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Erklärung parat. Dass es ihm schwer fällt, Entscheidungen zu treffen und an getroffenen Entscheidungen festzuhalten: Das will und kann er nicht leugnen. Doch nicht ein unsteter Charakter ist es, nicht Mangel an Energie und Festigkeit, mit dem er anderen das Leben schwer macht. Nein, Kafka schwankt nicht, er ist gespalten , und das ist etwas gänzlich anderes. Denn Unentschlossenheit ist bloße Schwäche, Gespaltenheit aber hat ein Moment von Tragik. Ist es nicht gar ein Zeichen von Vitalität, mit einer solchen inneren Verfassung zu überleben? Er sagt es nicht, aber es liegt nahe genug.
    Man täusche sich nicht: Es sind keine didaktischen Mittel, die Kafka hier aufbietet, und die Erfindung der beiden Kämpfer dient nicht etwa nur dazu, Felice ein inneres Erleben begreiflich zu machen, für das es keine Begriffe gibt. Kafka glaubt an dieses Bild, und allein die Art und Weise, wie er es szenisch und geradezu liebevoll ausmalt, erweist seine Überzeugung, hier etwas Grundlegendes entdeckt zu haben. Gewiss, es war nicht wirklich originell, innere Kräfte als selbständige, im Widerstreit liegende Personen darzustellen; für derartige Bilder hatte auch die Psychoanalyse eine Vorliebe, und es ist durchaus denkbar, dass Kafka auf diese Vorstellung deshalb verfiel, weil ihm die von Freud eingeführten, autonom ›handelnden‹ psychischen Instanzen {580} schon längst ein Begriff waren. Doch Kafka folgt nicht der Logik des Begriffs, sondern der des Bildes, er nimmt es wörtlich, er macht ein mythisches Geschehen daraus. Das Bild : die beiden Kämpfer. Die Geschichte : der ewig unentschiedene Kampf. Und eine wunderbar einfache und einleuchtende Erklärung dafür, warum Felice sich angezogen und zugleich abgestoßen fühlt.
    Er hatte nicht erwartet, jemals mehr von ihr zu hören. Hin und wieder empfing er einen Brief von Erna, die ihn über die Stimmung bei den Bauers auf dem Laufenden hielt, ansonsten träumte er von ihr »wie von einer Toten«. Dass umgekehrt auch Felice über sein besessenes Arbeiten gut unterrichtet war, blieb ihm verborgen – es war Elsa Brod, die sich darum bemühte, die schwachen Fäden zwischen Prag und Berlin nicht vollends reißen zu lassen und die auch Kafkas Reaktion auf die neuerlichen Annäherungsversuche genau beobachtete und der ungeduldig wartenden Felice sogar per Telegramm meldete. [546]  
    »Viel Selbstzufriedenheit während des ganzen Tags«, notierte Kafka am 1.November 1914, dem Tag, an dem er mit der von Felice erbetenen Bilanz begonnen hatte, diesem ungelegenen, aber offenbar doch entlastenden Nebenwerk. Andererseits war er sich sofort darüber im Klaren, dass ein neuerlicher emotionaler Aufruhr, vor allem aber das Warten auf Antwort unmöglich ohne Einfluss auf den PROCESS sein konnte: » … jetzt da ich eine Möglichkeit an sie heranzukommen, dargeboten bekomme, ist sie wieder der Mittelpunkt des Ganzen. Sie stört wohl auch meine Arbeit.« Das sollte sich bald bestätigen. Drei Monate lang, inklusive seines Urlaubs, hatte er allen äußeren Widrigkeiten standgehalten: dem ungewohnten Zimmer, der Änderung des Lebensrhythmus, den täglichen aufgeregten Debatten über das Schicksal des Geschäfts, der Fabrik und der beiden Schwager, dem ergreifenden Anblick der ostjüdischen Flüchtlinge und der Notwendigkeit, mit ihrem Schicksal sich auseinander zu setzen; nicht zu vergessen den fortdauernden, deprimierenden und selbst für gutgläubige Leser leicht zu entschlüsselnden Meldungen über die österreichischen Niederlagen. Das alles hatte er Abend für Abend von sich abgeschüttelt, um zu tun, was er für seine unabwendbare Aufgabe hielt. Plötzlich aber meldeten sich Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen zurück, und Kafka musste einige Nächte auf ganz gewöhnliche Weise im Bett verbringen, um sich zu erholen und einen Zusammenbruch im Büro zu verhindern. »Schuld sind die Briefe«, wusste er sofort, {581} »ich werde versuchen gar keine oder nur kurze Briefe zu schreiben.« Und daran hielt er sich. Bis Ende Januar, über nahezu ein weiteres Vierteljahr, hat sich kein einziger Brief von seiner Hand erhalten. [547]  

    Neunzehnhundertvierzehn, annus horribilis, ein Jahr des Unglücks. Für Felice Bauer wäre es wohl auch ohne Krieg das finsterste ihres bisherigen Lebens gewesen. Der soziale Bankrott und die Auswanderung des einzigen Bruders, die Vermögensverluste, die Sorgen um Erna, die gescheiterte Verlobung mit einem Prager Beamten, schließlich die peinlichen Fragen in der

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