Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
wenigen Wochen fingen Kafkas Eltern an zu begreifen, dass ihr advokatorisch ausgeklügelter Plan einen Haken hatte. Ihr Sohn ließ sich im familieneigenen Betrieb nicht mehr blicken. Kaum war die Maschinerie in Gang, nahm er die früheren Gewohnheiten wieder auf, ging am Nachmittag spazieren oder saß am eigenen Schreibtisch vor Heften und Büchern, und es kam sogar vor, dass er am Abend das Haus verließ, während in der Wohnstube Vater und Schwager die Sorgen der Fabrik verhandelten. Es war empörend. Hatte er nicht selbst dem Vater zugeredet, der vor dem Risiko anfangs zurückschreckte, hatte er nicht ausdrücklich zugestimmt, den Schwager durch regelmäßige Anwesenheit in der Fabrik zu »überwachen«? Offenbar hatte er vergessen, dass es nicht unverbindliche Gefälligkeiten waren, die man von ihm verlangte, und dass die Chance, selbst einmal zum vermögenden Unternehmer zu werden, durchaus kein shot for nothing war, kein Spiel ohne Einsatz. Kafka war ›offener Gesellschafter‹, und das bedeutete, dass im Fall eines Konkurses nicht nur die vom Vater stammende Beteiligung verloren war, sondern dass er mit seinem gesamten privaten Vermögen haftete, mit seinen Ersparnissen also. Dieser Druck, so hatten die Eltern kalkuliert, musste doch wohl genügen, um den Sohn an seine Versprechungen und an seine wahren Interessen von Zeit zu Zeit zu erinnern.
Doch der Erinnerung bedurfte es nicht; wochen-, ja monatelang fühlte sich Kafka einer Flut von Selbstvorwürfen ausgesetzt, die ihm den Schlaf raubten, ohne eine praktische Lösung zu weisen. Blindlings, in einer Stunde der Torheit, hatte er sein Leben einem Zwang ausgeliefert, welcher der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ schon {28} verzweifelt ähnlich sah: vormittags Büro, nachmittags Fabrik, abends und am Wochenende Abrechnungen, Pläne und Entscheidungen – nicht zu vergessen das habituelle Klagen, das zum Geschäftemachen offenbar gehörte wie die Luft zum Atmen. Das war nicht nur, wie er viel zu spät begriff, das Ende des Schreibens, es war das Ende jeder Konzentration, jeder Selbstvergewisserung, es war, wie er in den letzten Tagen des verhängnisvollen Jahres notierte, die »gänzliche Vernichtung meiner Existenz«. [16] Der Vater schimpfte ohne Unterlass, selbst der Schwager verfolgte ihn mit Blicken, die sehr nach Vorwürfen aussahen – es half alles nichts, Kafka war entschlossen, das Hamsterrad zu verlassen. Er verstehe nichts von der Fabrik, behauptete er. Es nütze niemandem, wenn er dort herumsitze. Man traute seinen Ohren kaum. Dann verebbten die Beschuldigungen. Und es breitete sich Schweigen aus am abendlichen Tisch der Familie.
Die Gründung der Asbestfabrik, der rasche Verlust der wirtschaftlichen Kontrolle und der schließliche Niedergang des Unternehmens zählen zu den folgenreichsten und quälendsten Episoden im Leben der Kafkas. Noch jahrelang dauerten die teils stummen, teils lautstarken Konflikte an, die genährt wurden durch immer neue Geldsorgen und durch die verzweifelten Skrupel des Sohnes, der sich, wohl zum ersten Mal überhaupt, einer geschlossenen Front von Anklägern gegenübersah. Er hatte zugeraten, er, der Einzige in der Familie, der von industrieller Technik einen Begriff hatte, und dieses voreilige Bescheidwissen, ein mikroskopisches Vergehen, wie ihm schien, zog nun die Höchststrafe nach sich. Dass er sich in eine so fremde, ferne, zutiefst gleichgültige Angelegenheit je hatte einmischen können – er verstand es nicht mehr, es war im Traum geschehen, in einem Albtraum, der nicht enden wollte.
Und er konnte nicht enden, solange Kafka den Spalt, der sich in seinem Denken zu öffnen begann, nicht zu deuten vermochte. Ja, er hasste das Büro, das Geschäft, die Fabrik. Doch alle diese Instanzen trugen den Zweck, den sie verfolgten, wie eine Fahne vor sich her. Niemand konnte diesen Zweck bezweifeln, niemand ihn leugnen, es waren schlechterdings sinnerfüllte Instanzen, die jedem Leben, das ihnen geweiht wurde, Zufriedenheit und Orientierung gaben. Die Eltern wussten immer , was sie wollten, und während Kafka die forcierte Betriebsamkeit, die damit einherging, mit klarstem Bewusstsein verabscheute, {29} glaubte er dennoch in schwachen Augenblicken eine höhere, sich selbst genügende Weisheit zu erkennen, die ihm unerreichbar blieb. Wovon sie lebten und wofür sie lebten: Bei den Eltern, den Geschwistern, den Verwandten und Kollegen war es ein und dasselbe. Während bei ihm das Wovon und Wofür, das Warum und
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