Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
einer dunklen Winternacht.) Nur das Verderben wirkt. Ich habe F. unglücklich gemacht, die Widerstandskraft aller, die sie jetzt so benötigen, geschwächt, zum Tode des Vaters beigetragen, F. und E. auseinandergebracht und schliesslich auch E. unglücklich gemacht, ein Unglück, das aller Voraussicht nach noch fortschreiten wird. Ich bin davor gespannt und bestimmt es vorwärtszubringen. […] ich habe auch derartig gelitten, dass ich mich davon niemals erholen werde (mein Schlaf, mein Gedächtnis, meine Denkkraft, meine Widerstandskraft gegen die winzigsten Sorgen sind unheilbar geschwächt, sonderbarerweise sind das etwa die gleichen Folgen wie sie lange Gefängnisstrafen nach sich ziehn)«. [550]  
    Man muss hier sehr genau hinhören: ›Ich bin das Verderben‹, das scheint moralischer Selbstmord, eine Anklage, die vernichtender nicht ausfallen könnte. Und doch spürt man die semantische Entlastung, die Kafka sich gönnt. Denn nur jenes Verderben ist es, das »wirkt«, er selbst ist »bestimmt«, dafür zu sorgen, dass es weiter wirkt, und seine Strafe hat er bereits abgesessen. Ja, es ist schändlich, was er dieser Familie antut, aber es hat auch Tragik: die scheinbare Schicksalhaftigkeit des großen Verbrechens, das durchaus nicht nur Steigerung des kleinen ist. Kafka kämpft um die Kohärenz seiner Welt, und er wirft jenes Übergewicht an Schuld von sich, das ihn niederstrecken würde, das ihn vom Schreibtisch erneut verbannen würde in einen Wirbel aus Angst und Langeweile. Kafka kämpft um seine Arbeit. Und während in sein Schreiben immer mehr Elemente jenes privaten Mythos eingehen, ja diesen gleichsam abzubilden beginnen, liefert die mythische Selbstdeutung den Schutz und die Energie, die Kafka jetzt braucht, um arbeiten zu können.
    Und er hält die Balance. Die aufwühlenden Botschaften Gretes und Felices, die Todesnachricht … Kafka stockt, zweifelt, glaubt schon, alles sei zu Ende, da öffnen sich unvermittelt neue Kanäle, und der aufgestaute Strom reißt ihn weiter. Am 18.Dezember – noch immer sitzt er Nacht für Nacht über den Akten seines PROCESSES – beginnt Kafka eine neue Erzählung, DER DORFSCHULLEHRER; in den letzten Tagen des Jahres eine weitere, DER UNTERSTAATSANWALT; Anfang Januar versagt er sich einen neuerlichen Anlauf, zu dem er die größte Lust verspürt, um dann wenig später doch noch ein weiteres Heft anzulegen mit einem Text über die notorischen ›Pferde von Elberfeld‹ und {584} deren angebliche Rechenkünste. Gewiss kannte Kafka den Bericht Maurice Maeterlincks in der Neuen Rundschau , in dem in epischer Breite die geistigen Fähigkeiten jener Pferde verteidigt wurden; der publizistische Streit reichte ja schon Jahre zurück. Aber um Pferde ging es Kafka nicht, er brauchte das Bild , nichts sonst. »Der größte Teil der Nacht aber sollte der eigentlichen Arbeit dienen«, heißt es im Elberfeld-Fragment über die umstrittene Dressur, und man begreift, welche ›Pferde‹ hier gemeint sind. Kurz darauf die Bestätigung im Tagebuch: »eine neue Geschichte angefangen, die alten fürchtete ich mich zu verderben. Nun stehen vor mir 4 oder 5 Geschichten aufgerichtet wie die Pferde vor dem Circusdirektor Schumann bei Beginn der Produktion«. [551]  

    Es waren unglückliche, paradoxe, ja bizarre Umstände, die jene sechs Monate währende Phase der Inspiration begleiteten. Beinahe scheint es unglaubhaft, dass Kafka, der sich doch über Jahre als schwankende Gestalt porträtiert hatte, unter solchen Bedingungen die Spannung zwischen äußerem und innerem Kosmos zu halten vermochte, während er gleichzeitig noch an Autonomie gewann. Und all dies in einem Zustand der intellektuellen Isolation, die unter den bedeutenden Autoren seiner Zeit wohl kaum ihresgleichen hatte. Mit wem hätte er über Literatur sich verständigen können? Felix Weltsch sah er jetzt selten, denn es war trostlos und zerstreute überdies die Gedanken, Zeuge einer offenbar unglücklichen Ehe zu sein. Von Wolff hörte er schon seit langem nichts mehr, auch die Verbindungen zu Weiß und Musil waren seit Kriegsbeginn abgerissen. Damit versiegten Quellen vielfältiger literarischer Impulse, und es schlossen sich sämtliche Perspektiven, die über Prag hinauswiesen. Gerade jetzt, da Kafka die Schubladen mit Bündeln beschriebener Seiten füllte, hätte er nicht zu sagen gewusst, ob es denn mit dem Glück des Schreibakts schon sein Bewenden hatte. Wozu denn das alles, für wen? Er sprach von der nächtlichen

Weitere Kostenlose Bücher