Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
sozialen Aufstieg des Clans noch das Geringste würde beitragen können. Die Produktion stand still – vermutlich aus Mangel an Rohstoffen, die im Krieg nicht mehr importiert werden konnten –, und alles, was man im Augenblick tun konnte, war, Inventur zu machen und Kunden wie Gläubiger mit möglichst geschickten Phrasen zu vertrösten, um den völligen Zusammenbruch noch ein wenig hinauszuzögern.
» … morgen gehe ich in die Fabrik«, schreibt Kafka am 4.Januar, »werde nach dem Einrücken Pauls vielleicht jeden Nachmittag hingehen müssen. Damit hört alles auf.« [554] So kam es. Bereits in der folgenden Nacht musste er den DORFSCHULLEHRER und den UNTERSTAATSANWALT abbrechen, und trotz verzweifelter Anstrengungen, wenigstens den PROCESS zu retten, erwies sich der äußere Druck als stärker: ein Tumult neuer Ablenkungen, der das Maß voll machte und in Kafkas Agenda kaum mehr eine Lücke der Besinnung ließ. Der {587} glückliche Zufall, dass Paul Hermann bereits nach vier Wochen zur militärischen Ausbildung nach Prag geschickt wurde, kam für Kafka zu spät. Er hatte seiner Arbeit den Rücken gewandt, ein wenig zu lange. Und da war die Tür ins Schloss gefallen.
›Warum versuchst Du nicht, etwas aus der Fabrik zu machen?‹ Das war die Stimme Felices, die geliebte, die gefürchtete Stimme. Vermutlich hörte sie Kafka hin und wieder am Telefon, denn Briefe störten nicht nur, sie krochen jetzt förmlich von Stadt zu Stadt und hatten unter den Augen der Zensoren, die seit Beginn des Krieges in allen Postämtern saßen, jene auratische Intimität eingebüßt, die für beinahe alle Qual entschädigte.
An Weihnachten war kein Platz für ihn gewesen am Tisch der trauernden Familie. So wurde ein Treffen für Januar vereinbart – Kafka sollte, wie stets, übers Wochenende nach Berlin kommen. Doch die Zeiten, da man den Fernzug ebenso umstandslos bestieg wie die Straßenbahn, waren vorüber. Der Staat, besorgt, dass Militärpflichtige ihm davonlaufen könnten, hatte friedliche Grenzüberschreitungen in bürokratische Hindernisrennen verwandelt. Man hatte stichhaltige Gründe beizubringen, in schriftlicher Form, und die Bauers versorgten darum Kafka mit Telegrammen, die ihn in dringenden Familienangelegenheiten nach Berlin riefen. Doch obwohl er, mit Behördenträgheit erfahren, die Reise frühzeitig beantragt hatte – Besuch der »Braut«, mit Name, Anschrift, Abstammung, nebst Vorlage der Telegramme –, sah sich die k. k. Statthalterei in Prag außerstande, die Papiere beizeiten auszufertigen. Und so blieb Kafka der neuerliche Anblick des Askanischen Hofs versagt, ein Schmerz, den er selbst sich wohl kaum erspart hätte.
Felice fand einen Ausweg. Da sie nach dem geplanten gemeinsamen Wochenende ohnehin eine Dienstreise anzutreten hatte, würde sie eben einen Umweg zur österreichisch-deutschen Grenze machen; den Pass würde sie leicht bekommen. Bodenbach hieß die böhmische Grenzstation, an der Kafka seinen Zug verlassen musste – ein Industriestädtchen an der Elbe, das er aus seinen Versicherungsakten genauer kannte, als ihm lieb war, und in dem er bei seinen früheren beruflichen Visiten gewiss nicht auf den Gedanken verfallen war, hier jemals ›privat‹ abzusteigen. Jetzt war Bodenbach ein Treffpunkt für Paare, und die Hoteliers waren auf die neue Kundschaft eingestellt.
Es ist von abgründiger Komik – und es war gewiss einer der nicht eben seltenen ›kafkaesken‹ Augenblicke in Kafkas Leben –, dass es der Trägheit einer Behörde bedurfte, um ihm das erste unbeobachtete Zusammentreffen mit der ersehnten Frau zu verschaffen, fernab aller Verwandten und Bekannten, in gänzlich anonymer Umgebung, das erste in jedem äußerlichen Sinn freie Zusammentreffen nach beinahe zweieinhalb Jahren. Keine Nacht war es, vermutlich nicht einmal ein ganzer Tag. Aber doch lang genug, um die Probe zu sein auf das unermessliche Versprechen, dass in Hunderten von Briefen sich aufgetürmt hatte.
Sexualität war das Thema dieser Prüfung: Sowohl Kafka wie auch Felice Bauer waren sich darüber völlig im Klaren. Er war am Samstag angereist, hatte ein Hotelzimmer genommen, Felice kam am Sonntag, vermutlich gegen Mittag. Sie aßen gemeinsam im Restaurant, danach gingen sie auf Kafkas Zimmer, und dort waren sie zwei Stunden lang allein. ›Mit aufs Zimmer nehmen‹, zur damaligen Zeit ein Synonym für Sex. Die Situation war eindeutig, verlangte nach Eindeutigem, und keinesfalls – dies wusste Kafka – hätte
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