Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Arbeit als einer »Pflicht«. Aber allein seine fortdauernde Lust am Vorlesen lässt daran zweifeln, ob er dabei an die protestantische Version der Pflichterfüllung dachte, die keines Zeugen bedarf.
Ein Ansporn waren gewiss die Energie und die Ausdauer, mit der Brod, trotz vielfacher Störungen, seinem großen Roman treu geblieben war. TYCHO BRAHES WEG ZU GOTT war mittlerweile vollendet, und Brod war es sogar gelungen, René Schickele, den neuen Herausgeber {585} der Weißen Blätter , dazu zu überreden, das umfängliche Werk in Fortsetzungen abzudrucken – ein publizistischer Unfug, durch den Schickele die Zeitschrift förmlich verstopfte und beinahe auch ruinierte. Kafka war gewiss gerührt, als er das erste Heft des neuen Jahrgangs aufschlug: Nicht irgendeinem politischen Mitstreiter hatte Brod den Roman gewidmet, sondern »meinem Freunde Franz Kafka«: Zeichen einer vorsichtigen Wiederannäherung, die durch Kafkas erneuertes Interesse an den Ostjuden gewiss erst möglich geworden war. Doch so sehr Kafka die Zielstrebigkeit bewunderte, mit der Brod sich eine Schneise durch den Literaturbetrieb bahnte, und so überzeugt wiederum Brod davon war, sein Freund sei »der größte Dichter unserer Zeit« [552] – eine ästhetische Annäherung bedeutete dies nicht, und Brods ausschweifende Spekulationen über den zionistischen Gebrauchswert von Literatur waren keinesfalls das feedback , das Kafka jetzt irgend hätte nützen können. Es ist gewiss kein zufälliges Zusammentreffen, dass in den Notaten dieses ersten Kriegswinters Kafkas literarische Vorlieben wieder häufiger zum Vorschein kommen und dass er – entgegen seiner sonstigen ziemlich bunten Lektüre – über beinahe ein Jahr bei einem Autor blieb, den er als psychisch nahe empfand: bei Strindberg. »Ich lese ihn nicht um ihn zu lesen sondern um an seiner Brust zu liegen«, heißt es sehr eindeutig im Tagebuch. [553] Strindberg hatte bewiesen, dass es möglich war, selbst aus tiefsten, lebensbedrohlichen Krisen sich in Literatur zu retten, und allein diese Demonstration, jenseits aller inhaltlichen Parallelen, empfand Kafka als eine Ermutigung, die ihm zeitweilig mehr bedeutete als der schulterklopfende Trost noch der nächsten Freunde. Auch Strindberg freilich hatte stets schnell, zielbewusst und mit Seitenblick aufs Publikum gearbeitet: ein Wunder an Produktivität, das man bestaunen durfte, doch unmöglich nachahmen konnte.
Kafkas Strategie, sich fortwährend in neue Geschichten zu stürzen, hat Brod, sofern er davon überhaupt erfahren hat, gewiss missbilligt, und seine pragmatischen Einwände sind unschwer zu erraten. Selbst in Kafkas eigener Arbeitsbilanz, die er zum Jahreswechsel erstellte – ganz gegen seine Gewohnheit, wie er ausdrücklich vermerkte –, musste er sich eingestehen, dass er außer der STRAFKOLONIE und einem weiteren Kapitel des VERSCHOLLENEN nichts hatte vollenden können, nichts in all den Heften, in all den vielen Nächten. Das war schlimm. Eine unwiderrufliche Niederlage war es jedoch noch längst nicht.
Denn wäre Kafka imstande gewesen, sich vergangene Befindlichkeiten intensiver vor Augen zu stellen, so hätte er sich sagen müssen, dass das Glas nicht halb leer, sondern halb voll war: Die äußeren Bedingungen, denen er die STRAFKOLONIE und den weit fortgeschrittenen PROCESS abgerungen hatte, waren ja geradezu höllisch, verglichen mit den Belästigungen, die ihm zwei Jahre zuvor als schon derart zerstörerisch erschienen waren, dass er nicht mehr glaubte, leben zu können. Wenn er imstande war, solchen Bedingungen zu trotzen, so blieb noch Hoffnung genug. Vorausgesetzt freilich, es wurde nicht schlimmer. Aber gab es denn das, ›nicht schlimmer‹, inmitten eines Weltkriegs?
Anfang Januar 1915 wurde Paul Hermann, der Bruder von Kafkas Schwager Karl, zum Kriegsdienst eingezogen. Über den Niedergang der Kafkaschen Asbestfabrik, die Paul Hermann provisorisch leitete und für die er auch Prokura hatte, war es schon häufiger zu Auseinandersetzungen gekommen, ohne dass man sich hatte entschließen können, energisch einzugreifen. Wer hätte Pauls zweifelhafte Geschäfte überwachen, wer hätte ihn ersetzen sollen? Jetzt freilich beantwortete sich diese Frage von selbst, denn mit einer neuerlichen Verweigerung hätte Kafka eine letzte Linie überschritten und sich selbst zum Feind, zum ›Verderben‹ auch der eigenen Familie erklärt. Dabei bestand ja längst keine Aussicht mehr, dass dieses elende Unternehmen zum
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