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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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rezensieren und rezensiert werden, das alles war ein Spiel mit Regeln, die einmal {31} galten und dann wieder nicht, ein Spiel mit Gesichtern, die kamen und gingen. Das Muss war eine Selbstermächtigung, ein großer Trost – zugleich aber ein unheimliches, namenloses Gesetz , das sich in vager Gestalt aufzurichten begann und alles unter sich zu begraben drohte. »Ich habe immerfort eine Anrufung im Ohr«, hatte er nur drei Tage später notiert. »›Kämest Du unsichtbares Gericht!‹« – Der Ruf wurde erhört, bald schon.

{32} Junggesellen, alte und junge
… so ist das bisweilen das schwerste Leben, das von Nichts handelt.
Kierkegaard, STADIEN AUF DEM LEBENSWEG
    Franz Kafka ist der Junggeselle der Weltliteratur. Niemand, auch nicht der aufgeklärteste Leser, kann sich ihn an der Seite einer ›Frau Doktor Kafka‹ vorstellen, und das Bild eines weißhaarigen Familienvorstands, zu dessen Füßen die Enkel spielen, ist vollends unvereinbar mit jener schmalen, verlegen lächelnden, früh vollendeten und früh verlöschenden Figur, die wir Kafka nennen. Kafka als Offizier, als Hofrat, als Nobelpreisträger – noch das Unwahrscheinlichste schiene uns wahrscheinlicher.
    Es gibt dafür gute und falsche Gründe. Zu den falschesten zählt gewiss die Projektion des ästhetischen und moralischen Anspruchs, den Kafka verfochten hat, in sein wirkliches, gelebtes Leben – Ansprüche, die er selbst immer wieder unter den vielwertigen Begriff der ›Reinheit‹ gefasst hat. Doch er war weder unschuldig noch rein, weder körperlos noch sexuell neutral. Kafka hatte während seiner Universitätsjahre nicht weniger sexuelle und erotische Affären als andere bürgerliche Männer seines Alters, und die Halbwelt der Prager Weinstuben mit ihren unscharfen Übergängen zwischen Entertainment und Prostitution war ihm bestens vertraut. Dass Kafka auch Bordelle aufsuchte, hätte vielleicht die Schwestern, wohl kaum aber seine Eltern überrascht, denen ein in jeder Hinsicht ›normaler‹ Sohn gewiss lieber gewesen wäre als ein Asket. ›Sich die Hörner abstoßen‹, wie der geläufige Euphemismus lautete, war eine schulterzuckend akzeptierte und für eine bestimmte männliche Lebensphase sogar sozial erwünschte Tätigkeit: Denn dadurch wurde vermieden, so hoffte man, dass sich sexuelle Begierden allzu störend in das verantwortungsvolle Geschäft der Eheschließung einmischten. Dass Kafka so bewährte Lebensstrategien {33} dann doch verwarf und eine Begehrte heiraten wollte, anstatt sich bei einer ›Dirne‹ abzukühlen, hat ihm der Vater in späteren Jahren ausdrücklich vorgeworfen – vor den Ohren der Mutter.
    Doch auch unter feinsinnigen Freunden galten Bordellbesuche durchaus nicht als peinlich. In einer Zeit, da selbst die flüchtigste sexuelle Beziehung entweder in eine Verlobung oder in einen Skandal zu münden drohte, brauchte kein junger, unverheirateter ›Freier‹ die Frage zu fürchten, ob er das denn nötig habe. Selbst Kafka, dessen Schamgefühl leicht zu erregen war, fand nichts dabei, gemeinsam mit Max Brod Freudenhäuser in Prag, Mailand und Paris aufzusuchen. Das war aufregender, moralisch aber kaum verwerflicher als jede andere Art von ›billiger‹ Unterhaltung.
    Freilich: ›Alles zu seiner Zeit‹ – dieses Gesetz wirkte auch in Kafkas sexuell liberalisierter Umgebung ungebrochen fort. Auch wenn seine Freunde dies wohl kaum illusionslos zu reflektieren vermochten, so war doch allen schmerzlich bewusst, dass es sich um einen Zustand des Übergangs handelte, um ein Moratorium, an dessen Ende ein anderer Umgang mit Sexualität stehen musste. Selbst für Max Brod, der ausgesprochen promiskuitiv lebte, wäre es eine schwer erträgliche Vorstellung gewesen, mit vierzig oder fünfzig Jahren noch immer die Nächte in den Weinstuben zu verbringen, auf dem Schoß ein bezahltes ›Mädchen‹ und am Nebentisch einige grinsende Gymnasiasten. Nein, peinlich war nicht der Bordellgeher, peinlich war der alternde Junggeselle, denn der hatte es tatsächlich ›nötig‹. Und so sehr Brod die erotische Beengtheit der Ehe fürchtete, so wenig mochte er auf die Aussicht verzichten, sich eines Tages sozial wie sexuell zu konsolidieren.
    Nicht viel anders sahen die Perspektiven eines anderen nahen Freundes aus, des Bibliothekars Felix Weltsch, der häufig mit Brod zusammentraf, um philosophische Texte zu lesen, wobei sich bisweilen Kafka mit sparsamen Einwürfen beteiligte. Auch Weltsch, ein Jahr jünger als Kafka und bereits

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