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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Wozu, der Grund und der Zweck, Ursprung und Ziel, Anfang und Ende in einem unseligen, das ganze Leben zerreißenden Spagat auseinander traten.

    »Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es.« [17]   Höchste Zeit, sich darauf zu besinnen. War spät am Abend endlich Ruhe eingekehrt, öffnete Kafka die intimen Fächer seines Schreibtischs und zog einige schwarze oder braune Oktavhefte heraus. Fror es gar zu sehr, trug er die Hefte, einen Federhalter und ein Fässchen mit schwarzer Tinte hinüber in die Wohnstube, wo die verlöschende Glut noch genügend Wärme gab und wo allein die unter ihrem Tuch sich rührenden Kanarienvögel und die auf der Anrichte thronende, schwere, von Verzierungen überladene Uhr die Stille unterbrachen. Hin und wieder war noch das gedämpfte Rumpeln des Lifts zu hören, doch nur selten kehrte jemand so spät nach Hause zurück, längst war ja die Haustür versperrt, und jeder, der noch hinaus oder herein wollte, musste beim Hausmeister läuten. Er war der Einzige, der einen Schlüssel besaß. Und das kostete sechs Heller.
    Ließ Kafka in der warmen Stube den Blick umherwandern, so traf er unvermeidlich auf das Bücherregal: eine stumme Erinnerung daran, dass Schreiben mit Publizieren zu tun hatte und dass man nicht schreiben konnte, ohne zu lesen. Was dort aufgereiht war, gehörte fast ausnahmslos ihm; im eigenen Zimmer stand ja schon der Kleiderschrank, und Platz für einen zweiten ›Kasten‹ (wie er als Österreicher sagte) gab es dort nicht. Doch er war kein Sammler, viel Raum beanspruchte er nicht. Ein paar deutsche Klassiker standen da, Goethe, Kleist, Hebbel, Grillparzer, nichts davon vollständig, außerdem Flaubert, Dostojewski und Strindberg, Tagebücher und Lebensbeschreibungen ohne erkennbare Ordnung, einige philosophische und juristische Werke aus den Studienjahren, natürlich Reiseführer, vielleicht auch noch Jugendbücher und einige von ›Schaffsteins Grünen Bändchen‹ mit Abenteuern aus exotischen Gegenden. Und, nicht zu vergessen, vereinzelte {30} Bücher, die Freunde verfasst hatten, Geschenkexemplare mit Widmungen: »dem lieben Dr.Franz Kafka« oder »dem Franz«, je nachdem.
    Kein Buchrücken aber trug seinen eigenen Namen. Es war seltsam. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er sich eingehüllt in diese Wachstuchhefte, nirgendwo war er mehr bei sich selbst als hier, wo die Sinne nichts mehr aufnahmen als die Spur der Tinte und das leise scharrende Geräusch der Feder. Von diesem farbigen, flüssigen, schwebenden Zustand ließ das starre Druckbild gar nichts mehr ahnen, es war eine Kopie, das Bild eines Bilds, und welche Bedeutung es eigentlich hatte, gedruckt zu werden, hatte sich Kafka immer nur mühsam und nachträglich klar gemacht. Das würde sich ändern. Bisher jedoch war nur selten einigen aufmerksamen Lesern ein Blick vergönnt auf diese ewig stockende Quelle, die ihm jedes Opfer wert schien, ohne dass er hätte sagen können, was hier eigentlich ›herauskam‹. Er schrieb, aber er ›verfasste‹ nicht, und er strich durch und vernichtete mehr, als er aufbewahrte. Nur wenige Prosastücke traten hervor aus einem unabsehbaren Gespinst von Notaten, doch weder die Kostproben, die im Hyperion erschienen waren, noch die spielerische BESCHREIBUNG EINES KAMPFES hatten die schwächste Resonanz gefunden. Die HOCHZEITSVORBEREITUNGEN AUF DEM LANDE, eine weitere Erzählung, die nach mehreren Anläufen mitten im Satz versickerte, ließen nicht einmal an eine fragmentarische ›Verwertung‹ denken, ganz zu schweigen von seinem jüngsten Fehlschlag, DIE STÄDTISCHE WELT, begonnen im Frühjahr 1911 und abgebrochen nach wenigen Seiten: eine Erzählung, in der ein polternder Vater auftritt, dessen Gestalt ein ganzes Fenster verdeckt, und ein windiger Sohn, ein Schwadroneur, der ein »Lotterleben« führt und seit zehn Jahren promoviert … nein, es wäre nur schwer zu ertragen gewesen, ausgerechnet jetzt, inmitten des Gezänks um die Asbestfabrik, sich in derartigen Phantasien des Untergangs zu ergehen.
    Dies also war Kafkas »Arbeit«, dies waren die »Sachen«, die ihm – selbst im Geräusch des Tages – mehr bedeuteten als alles Lebendige. »Hier muss ich mich festhalten«, hatte er sich selbst beschworen, und dieses ›ich muss‹ sollte sich in seinem Leben noch unzählige Male wiederholen. Briefe an Redakteure schreiben, Fahnen lesen, über Druckfehler schimpfen, für ein paar Kronen Honorar danken,

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