Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
zweimal promoviert, war Junggeselle, betrieb jedoch die Überwindung dieses Zustands mit neurotischer Akribie. Seit Jahren durchlitt er eine Liaison, deren Höhen und Tiefen er genau protokollierte und deren mögliches Scheitern er offenbar mehr als moralisches denn als emotionales Debakel fürchtete. »Man muss das Unmögliche wollen«, antwortete er auf entsprechende Vorhaltungen und stellte damit seine Existenz auf ein Gleis, das – für alle {34} sichtbar und erwartbar, nur für ihn selbst nicht – in eine quälend konfliktreiche Ehe führen musste. Weltsch sammelte Liebesbriefe, Briefabschriften und stenographische Gesprächsnotizen, ordnete und bündelte sie wie Gerichtsakten, las sogar Kafka und Brod daraus vor. Und obwohl Einzelheiten dieser unglückseligen Geschichte nicht überliefert sind, ist doch unschwer zu erraten, dass Weltsch gerade wegen dieser beklemmenden Zwanghaftigkeit der Sinn des ganzen Unternehmens irgendwann aus dem Blick geriet. Da er nur ein mageres Gehalt bezog, keine Aufstiegschancen hatte und auch von seinen philosophischen Schriften niemals würde leben können, war dem flüchtigsten Blick erkennbar, dass Weltsch in eine soziale Falle lief. Sein trockener Humor täuschte darüber hinweg, dass es ums Ganze ging, täuschte bisweilen auch die Freunde. Doch in dem Augenblick, da Weltschs Heirat beschlossen war, erkannte Kafka mit Schrecken sein Spiegelbild.
Brods chaotisches Liebesleben war reicher an Genüssen, zeigte aber im Grunde dieselbe Entropie, dasselbe Gefälle, und so ekstatisch er den Augenblick zu feiern vermochte, so wenig verstand er die Trauer der unausweichlichen Integration, die alles grundierte. Er wich dieser Trauer aus, bekämpfte sie durch Aktivität. Dabei sorgte sein beständiges womanizing , vor dem auch die Dienstmädchen der Familie nicht sicher waren, immer wieder für bühnenhafte Verwicklungen – zum einen, weil er trotz eigener vielfacher Unaufrichtigkeiten seiner Eifersucht nicht Herr zu werden vermochte, zum anderen wegen der kleinstädtischen Übersichtlichkeit des Prager Lebensraums, wo sich unwillkommene Begegnungen nicht immer vermeiden ließen. Auch Brod wohnte noch bei den Eltern, doch für sexuelle Affären hatte er eigens ein Zimmer gemietet (das auch sein Bruder Otto gerne nutzte) und verfügte damit, anders als Kafka, über einen geschützten Winkel außerhalb des familialen Blickfelds. Seine privaten Aufzeichnungen zeigen ihn noch in der Mitte seiner zwanziger Jahre als erotisch schwankende Gestalt, hin und her gerissen zwischen Lust, Hass, sentimentaler Reizbarkeit und pubertären Erregungen, die sich an verweigerten Küssen ebenso entzünden konnten wie an einer Geste weiblicher Selbstbestimmung. Nicht zu vergessen die beständige Furcht vor Schwangerschaften, die jedes ›Erlebnis‹ zu einem Spiel mit hohem Einsatz machte und damit das Erregungspotenzial noch steigerte.
Auch Brod aber verfolgte inmitten all dieser Wirren, nicht anders als der systematisch unglückliche Weltsch, einen erotischen Hauptplan: die Liebschaft mit einer bildungshungrigen, daher bildbaren jungen Frau namens Elsa Taussig, die klassische Konzerte besuchte, Fremdsprachen erlernte, von einem Universitätsstudium träumte und sogar eigene literarische Versuche unternahm. Nur in Bezug auf sie spricht er hin und wieder das Wort ›Heirat‹ aus, ohne dass zu erkennen wäre, wodurch sie sich für diesen besonderen Status qualifizierte. Denn die Gefühle, die er für sie hegte, schwankten ebenso unberechenbar wie die gegenüber allen übrigen Frauen: Er verfolgte sie mit eifersüchtigen Launen, war versöhnt durch ein neues Frühlingskleid, verbrachte mit ihr glückliche Stunden ›im Zimmer‹ und fand sie am nächsten Tag wieder unscheinbar, blass und mager. Mal begeisterten ihn ihre szenischen Einfälle – seine humoristische Erzählung AUS EINER NÄHSCHULE geht auf Erlebnisse Elsa Taussigs zurück –, dann wieder fand er ihre wiederkehrenden Melancholien nervtötend, ihre Bemerkungen zu seinen Werken gänzlich ahnungslos und ihre eingestandene Unfähigkeit, mit Kafka »natürlich zu reden«, geradezu kindisch. Doch er verfolgte ein Projekt, das Ehe hieß und das – genau wie in der Generation der Eltern – einer gleichsam überpersönlichen Logik folgte. Und so empfand es auch der erotische Lyriker Brod als seine selbstverständliche Pflicht, zu Hause eine Erklärung über die finanziellen Verhältnisse der Erwählten abzugeben, samt Vorlage von Fotos.
Kafka
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