Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
verfolgte dieses Treiben als wohlwollender Zuschauer und Ratgeber, ohne indessen den von Weltsch und Brod eingeschlagenen Weg selbst zu betreten. Er durchschaute die Freiheiten des Junggesellen als kontrolliertes Geschehen: Im Grunde war es nicht anders als bei den saufenden Jurastudenten, denen es auch im wüstesten Exzess nicht eingefallen wäre, Sinn und Notwendigkeit des Staatsexamens grundsätzlich in Frage zu stellen. Alles zu seiner Zeit. Kafka aber, als Einziger im engeren Freundeskreis, wurde von wachsenden Zweifeln bedrängt. Gewiss, aus der Sicht der Gesellschaft und der Familie war die Ehe ein ›Examen‹, das irgendwann fällig wurde, und diese Erwartung war völlig legitim. Andererseits aber war die Ehe eine Leistung, die ihm keinesfalls selbstverständlich schien, da sie bestimmte psychische Ressourcen forderte. Würde er diese Prüfung bestehen? Die Erfahrungen der vergangenen Jahre deuteten darauf hin, dass seine Stärken {36} hier gewiss nicht lagen. Noch niemals war ihm eine längerfristige Bindung an eine Frau geglückt. Die erotischen Ekstasen Brods konnte er nur bestaunen, ohne sie wirklich nachzufühlen. Und er kannte auch die Qual noch nicht, die den Eifersüchtigen zu unwürdigen Nachstellungen treibt und seinen Geist steril macht. War dies ein Mangel, eine habituelle Unfähigkeit? Vielleicht. Doch als Kafka sich Rechenschaft abzulegen suchte, fühlte er, dass es ihn nicht wirklich dorthin zog. Die anderen füllten einen vorgezeichneten Radius aus. Er selbst blickte auf einen einzigen Punkt.
»In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, dass das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und liess alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, dass sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewusst gefunden, er fand sich selbst und wird jetzt nur noch durch das Bureau, aber hier von Grund aus gehindert. Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, dass ich keine Geliebte ertragen kann, dass ich von Liebe fast genau so viel wie von Musik verstehe und mit den oberflächlichsten angeflogenen Wirkungen mich begnügen muss … « [18]
Kafka notierte dies Anfang 1912: die für ihn typische Bilanz zum Jahreswechsel. Von Ehe ist keine Rede, selbst Sexualität erscheint hier nur als libidinöse Leistung unter gleichberechtigten anderen. Es ist sein Lebensprogramm, das Kafka hier erstmals präzis formuliert, zugleich die Keimzelle eines inneren Mythos, an dem er festhalten und den er konsequent entfalten wird: Nicht er selbst ist es, der die letzte Entscheidung trifft, sondern sein ›Organismus‹, also seine Konstitution, also etwas Unabänderliches. Diese Entscheidung aber ist bereits gefallen, Kafka buchstabiert sie nach, verliest sie gleichsam – mit vernehmbarem Stolz auf die eigene Entschlossenheit, die geforderten Opfer klaglos zu erbringen.
Das erscheint frivol. Ein Achtundzwanzigjähriger mag den Genüssen des Lebens abschwören, in Form eines mehr oder weniger gewaltsamen Willensakts: Das haben aus religiösen Gründen Tausende vor ihm getan. Kafka aber gründet seinen Verzicht auf nichts als ein inneres Selbstbild. Ob gut oder schlecht: So bin ich, und darum kommt all {37} dies für mich nicht mehr in Frage. Eine fahrige, vorschnelle Geste, die auch dadurch nicht überzeugender wird, dass Kafka das Vakuum sofort auffüllt und seinem Leben einen ganz anderen Sinn zuordnet. Er spricht vom »Nachweinen«. Das klingt nicht, als wisse er den Wert dessen, was er verwirft, wirklich einzuschätzen.
Tatsächlich hatte Kafka noch keine konkrete Erfahrung mit einem Leben, das auf den Akt des Schreibens radikal zugespitzt war; er kannte weder die Qualen endgültigen Verzichts, noch konnte er ahnen, wie nahe ihm die große Probe schon bevorstand. Doch es kann keine Rede davon sein, dass er die langfristigen Konsequenzen nicht durchdacht hätte. Er hatte sie, was mehr ist, imaginativ längst durchlebt, er hatte sie abgewogen gegen seine Sehnsucht nach sozialer und intimer Nähe, und er hatte es sich auch nicht erspart, eine Außenansicht von forcierter Trostlosigkeit
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