Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Autonomie, die sich zum Selbstzweck erhob, dagegen nichts ausrichten würde. »Gefühl des Kinderlosen« nannte er es, vertraut war es ihm schon lange, neu aufgebrochen war es mit den Hochzeiten der Schwestern, doch die letztgültige Formel fand er erst zwei Jahre vor seinem Tod: »immerfort kommt es auf Dich an ob Du willst oder nicht, jeden Augenblick bis zum Ende, jeden nervenzerrenden Augenblick, immerfort kommt es auf Dich an und ohne Ergebnis. Sisyphus war ein Junggeselle.« [20]
Gab es Gegenbilder? Gewiss, doch nur selten blitzten sie auf, und als ›Vorbilder‹ schienen sie Kafka nicht übertragbar. Die Energie, mit der Brod seinen tatsächlich schwachen, sogar sichtbar verwachsenen Körper bewohnte, staunte Kafka an, als handele es sich um eine sportliche Leistung. Das Unmögliche zu wollen, wie Weltsch es verlangte – das war ein schöner Gedanke, auf den man jedoch nur verfallen konnte, wenn einem das ›Mögliche‹ leicht von der Hand ging. Er habe mit Weltsch »eine Art junggesellenhafter Bruderschaft gebildet«, resümierte Kafka später, »die wenigstens für mein Gefühl geradezu gespensterhaft war in manchen Augenblicken«. [21] Für sein Gefühl: Er wusste, dass Weltsch dies ganz anders erlebte. Der Kampf mit der Braut würde einmal enden. Und dann kam die Ehe, und vielleicht weitere Kämpfe. Doch nicht das Leben des Sisyphus, das nicht.
Kafkas sozialer Radius war viel zu begrenzt, als dass er planvoll nach Vorbildern hätte Ausschau halten können. Ein philosophischer Salon, den die Apothekergattin Berta Fanta führte, war bisher die einzige Bühne gewesen, auf der er eine Gruppe mit breit gefächerten intellektuellen Interessen beobachtet hatte. Doch über private Sorgen wurde dort niemals verhandelt, und Kafka, den theoretische Diskussionen zunehmend langweilten, zog sich zurück. Seither beschränkte er sich auf zwei, drei Vertraute, die er häufig traf und bei denen er auch unangemeldet läuten durfte. Allein im Jahr 1911 sind siebzig Tage nachweisbar, an denen er mit Max Brod beisammen war, einschließlich einer gemeinsamen Reise durch die Schweiz nach Mailand und nach Paris. Dazu kamen etliche Verabredungen mit Weltsch sowie die {40} allwöchentlichen Treffen bei dem Schriftsteller Oskar Baum, wo sich die Freunde aus ihren Arbeiten vorlasen – eine seit Jahren festgehaltene Gewohnheit.
Baum war der Einzige in diesem engen Kreis, der verheiratet war und auch schon einen kleinen Sohn hatte. Doch an seinem Schicksal konnte Kafka das seinige nicht messen, denn Oskar Baum war blind. Er brauchte technische Hilfe beim Schreiben (einen Braille-Apparat führte er ständig mit sich), und auf das Vorlesen war er weitaus mehr angewiesen als alle anderen. Ins Kaffeehaus und zu kleinen Ausflügen musste man ihn abholen, Weinstuben, Chantants und Theater blieben ihm verschlossen (obwohl er auch für die Bühne schrieb). Für Urlaubsreisen wiederum fehlte das Geld. Baum ernährte seine Familie fast ausschließlich als Organist und durch Klavierstunden, und er fieberte jeder literarischen Einladung, jedem Verlegerbrief entgegen, der diesen Zustand zu beenden versprach. Da er jedoch in seinen beiden ersten Büchern mit dem Schicksal der Blindheit abrechnete (und vor allem mit der Blinden fürsorge ) [22] , wurde er mit diesem Genre noch lange Zeit identifiziert, und Brod, der zu vermitteln suchte, hatte Mühe, diesen Vorbehalt auszuräumen.
Baums Ehefrau war fast stets gegenwärtig, daher kam es zur Besprechung von heiklen persönlichen Problemen wohl nur selten, und eine Innenansicht dieser Ehe gewann Kafka vorläufig nicht. Noch im Jahr 1911 sprach er den Freund mit ›Sie‹ an; er beriet ihn bei der Korrektur von Manuskripten, sparte wohl auch nicht mit Klagen über sein tagnächtliches Doppelleben, doch dass auch der psychisch weitaus robustere Baum das Zusammenleben mit Frau und Kind allmählich als unvereinbar empfand mit der Konzentration des schöpferischen Prozesses, ahnte Kafka zu dieser Zeit offenbar noch nicht. Immerhin, es waren nicht nur Junggesellen, nicht nur Gespenster, mit denen er seine freie Zeit verbrachte. Seine Mutter war beinahe glücklich darüber. Ein Musiklehrer mit Familie: Das erweckte Vertrauen, und vielleicht war das jemand, den auch ihr Sohn sich hätte zum Vorbild nehmen können. Und so schrieb sie Anfang März 1911 – besorgt über die zunehmend wunderlichen Züge ihres Sohnes – einen Brief an Oskar Baum, in dem sie ihn bat, dem Franz doch endlich
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