Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
denn einige Wochen später erkundigte sie sich tatsächlich bei Brod, doch der hatte keine Lust mehr, dieses unzionistischste seiner Bücher zu kommentieren.) Der Abend wurde beschlossen mit einem dummen Witz des Herrn Direktor, der einen Bildband aus dem Regal zog, um Fräulein Bauer »Goethe in Unterhosen« zu zeigen. »Er bleibt ein König auch in Unterhosen«, zog diese sich aus der Affäre, was Kafka einen »Druck in der Kehle« verursachte. Sie beeilte sich, in ihre Stiefel zu kommen, während Kafka, an den Tisch gelehnt, den Umstehenden halblaut versicherte, die Berlinerin gefalle ihm »zum Seufzen« – eine wahrhaft »blödsinnige Bemerkung«, wie er später zugab.
Nun musste die Dame noch zum Hotel ›Blauer Stern‹ begleitet werden, wofür sich Brods Vater sowie Kafka anboten, der den Nachhauseweg ohnehin gern verlängerte. Kafka war um diese späte Stunde zumeist lebhaft und hellwach, und lange Spaziergänge durch das nächtliche Prag (das man sich weit dunkler vorzustellen hat als eine Großstadt der Gegenwart) gehörten zu seinen ältesten Gewohnheiten. Heute allerdings hatte sich mit ihm eine merkwürdige Verwandlung vollzogen; wortkarg lief er neben den beiden her, nahm zwar noch allerlei erstaunliche Einzelheiten aus Felice Bauers Dasein in sich auf – bis vier Uhr früh hatte sie vorige Nacht im Bett gelesen, und zur Weiterreise gepackt hatte sie auch noch nicht –, doch schien er abwesend, stolperte mehrmals vom Trottoir hinab auf die Fahrbahn und drängte sich gar, als sie am Hotel angelangt waren, mit Fräulein Bauer {100} in dieselbe Abteilung der Drehtür. Als sie ihn fragte, wo er wohne – nichts als eine höfliche Erkundigung, ob er nicht einen allzu weiten Umweg in Kauf nehme –, glaubte er, sie verlange seine Postanschrift, um sofort nach ihrer Heimkehr eine Korrespondenz über die geplante Palästinareise eröffnen zu können. Auf diese Reise hatte Kafka im Verlauf des Abends immer wieder angespielt, da er den Verdacht hatte, niemand nehme sie ernst; jetzt, da es ans Abschiednehmen ging, raffte er die letzte Geistesgegenwart zusammen und erinnerte nochmals an das durch Handschlag besiegelte Versprechen. Dann schloss sich die Tür des Hotelaufzugs, und die leibliche, die wirkliche Felice Bauer verschwand für ganze sieben Monate.
So weit die Außenansicht jenes denkwürdigen Abends, über die wir deshalb so gut im Bilde sind, weil Kafka selbst in einem Brief an Felice Bauer eine genaue Schilderung gegeben hat [82] – stolz und auch ein wenig eitel mit seinem Gedächtnis paradierend, das jene Stunden mit der Präzision einer Kamera aufgezeichnet hatte. (Nicht ganz: Die Farbe ihres großen Hutes erinnerte er falsch, worüber er sich nur schwer beruhigte.) Und die Innenansichten? Brod hat leider nicht überliefert, wie er den Abend erlebte, für ihn stand gewiss die BETRACHTUNG ganz im Vordergrund, die er denn auch, kaum waren die Besucher verabschiedet, noch einmal genussvoll vornahm. Felice Bauer fühlte sich, wie sie später gestand, ausgesprochen »unbehaglich«, da sie den Eindruck hatte, man nehme kaum Notiz von ihr. Es war eben anstrengend, Konversation zu machen, wenn man – wie anlässlich Brods Operette und Kafkas BETRACHTUNG – nicht mitreden konnte. Auf Kafka selbst hatte sie nicht besonders Acht gegeben; er war niemand, den man kennen musste – als Schriftsteller war ja Kafka kaum mehr als ein Prager Gerücht –, aber auch seine äußere Erscheinung hat sie offenbar wenig beeindruckt. Ein starkes Indiz dessen hielt Kafka vier Jahre später in Händen: Wohl erinnerte sie ihn pünktlich an den Jahrestag der ersten Begegnung (während er angeblich nicht einmal wusste, wie viele Jahre es waren), doch dass er damals bis zum Hotel mitgegangen, mitgestolpert war, hatte sie längst vergessen. [83]
Ganz anders Kafkas Erleben: vom ersten Augenblick an ein gieriges Aufnehmen lebendiger Details, ein wie hypnotisiertes, selbstvergessenes Eindringen in ein fremdes weibliches Leben, eine wahre Hölle an Präzision: {101}
»Frl. Felice Bauer. Als ich am 13. VIII zu Brod kam, sass sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, dass ich ihr so nah an den Leib gehe.
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