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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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über sich verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt?«
    Dieser »Fahrgast«, dessen Pupillen sich zur Lupe weiten, hat noch nicht begriffen, dass er tötet, was er lebendig in sich aufzunehmen vermeint. Sein Blick friert den ›Gegenstand‹ nicht nur ein, er zerlegt ihn. Hätte er das Mädchen wirklich »betastet«, dann wäre sie ihm nicht nur »deutlich«, sondern mehr und anderes. Was ihm stattdessen in Händen bleibt, ist nicht die Wirklichkeit, sondern eine Art Trockenpulver, {103} das mit der Realität, geschweige mit realem Erleben, nur noch der Idee nach etwas gemeinsam hat. Die Komik dieser Verfehlung entsteht in DER FAHRGAST durch die Fallhöhe zwischen dem ersten und dem zweiten Absatz: Wenn dieses körperlose »Ich« keinerlei Boden unter den Füßen hat, nicht weiß, warum und wozu es lebt, also eigentlich als Chimäre durch die Welt spaziert, dann kann ihm auch die genaue Zählung der Härchen eines fremden Mädchens nicht zu wahrhaftem Leben verhelfen.
    Noch etwas wirkt befremdlich in Kafkas Beschreibung Felice Bauers: der Begriff »unerschütterliches Urteil«. Einige Interpreten haben dies so verstanden, als sei Kafka schon im ersten Augenblick entschlossen gewesen, sich über diese Frau sein eigenes Bild zu machen, sie als Bühne seiner einsamen Projektionen zu missbrauchen. Wahr ist das Gegenteil. Kafka erinnert sich an diesen Bewusstseinsakt deshalb, weil sein Urteil – »Dienstmädchen«, »leer« usw. – an jenem Abend geradezu umgestülpt wurde und nicht nur dieses Urteil, sondern er selbst sich als in höchstem Maß »erschütterbar« erwies. Schließlich dachte er nun schon seit Tagen über die Fremde nach, der gegenüber er sich mit seinem vorschnellen »Abfinden« geradezu blamiert hatte.
    War Kafka verliebt? Unter dem Eindruck des ersten Augenblicks nicht, unter dem Eindruck des ersten Abends zweifellos, und beide Eindrücke bewahrte er lange in sich auf. Kafka agierte wie ein verliebter Schuljunge, er kannte sich selbst nicht wieder. Schon während jenes Gangs zum Hotel, bei dem er in einen seiner »nicht gerade seltenen Dämmerzustände« verfiel, »in denen ich nichts anderes klar erkenne ausser meine eigene Nichtsnutzigkeit« [86]   , spielte er Möglichkeiten durch, eine Beziehung anzuknüpfen: Er dachte an Briefwechsel – daher das Missverständnis um seine Adresse –, zugleich aber schwebte ihm »in unsicheren Entschlüssen« vor, sich am nächsten Morgen mit Blumen am Bahnhof zu postieren, was nur dadurch vereitelt wurde, dass sich ihm schon bei diesem allerersten Schritt ein Nebenbuhler in den Weg stellte, der Leiter der Prager Lindström-Filiale [87]   , mit dem Fräulein Bauer tags zuvor auf dem Hradschin gewesen war und der womöglich ebenfalls am Bahnhof auftauchen würde. Und woher sollte man so früh am Morgen Blumen beschaffen? Das sah wirklich sehr nach den Sorgen einer Schülerliebe aus.
    Anderntags, kaum im Büro angelangt, schickte Kafka per Boten {104} eine dringliche Bitte an Brod: Dieser solle doch die Reihenfolge der Prosastücke noch einmal überprüfen, denn er selbst habe »beim Ordnen der Stückchen unter dem Einfluss des Fräuleins« gestanden. (In Wahrheit hatte er gar nicht zugehört: Das Manuskript war noch nicht gesetzt, da hatte er die Reihenfolge schon wieder vergessen. [88]   Einen wiederum verwandelten Autor zeigt dann das am selben Tag formulierte Begleitschreiben an Rowohlt. Das gewitzte Selbstbewusstsein, das hier aufblitzt, hätte man Kafka nach der Selbstquälerei der vergangenen Wochen keinesfalls mehr zugetraut:
»Hier lege ich Ihnen die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon ein kleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben. Gewiss habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich, wenn Ihnen die Sachen auch nur soweit gefielen, dass Sie sie druckten. Schliesslich ist auch bei grösster Übung und grösstem Verständnis das Schlechte in den Sachen nicht auf den ersten Blick zu sehen. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, dass jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.« [89]  
    Doch wenige Tage später erfolgte bereits der psychische Rückstoß:
»Wenn Rohwolt [!] es zurückschickte und ich alles wieder

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