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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet und glaube es überdies noch nicht. […]) Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich sass, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.« [84]  
    So steht es eine Woche später im Tagebuch. Eine Beschreibung wie ein Fausthieb (der Felice Bauer, verwitwete Marasse, mit jahrzehntelanger Verspätung dann auch sicher getroffen hat, als ihr die Tagebücher gedruckt vorlagen). Fast scheint es, als wisse sich Kafka der fortdauernden Irritation nicht mehr anders zu erwehren als durch die klassische männliche Waffe der angestrengt kalten Beobachtung – fiele er sich nicht selbst ins Wort und beklagte die »Entfremdung«, die ihm hier widerfährt. Jetzt ist es am Leser, irritiert zu sein. Wie, so ist zu fragen, kann man einem fast gänzlich fremden Menschen »entfremden«? Und kann denn Kafka im Ernst hoffen, dass die Schilderung eines weiblichen Gesichts, die alles ausklammert, was an ihm Ausdruck ist, ebenderselben Frau näher bringt, die kein anderes Gesicht hat, sich auszudrücken?
    Auch in früheren Jahren schon hatte Kafka eine ganze Reihe von Frauenporträts gezeichnet, die sich durch eine gleichsam hyperrealistische Präzision auszeichnen. Sein Blick wirkt hier saugend, süchtig, als wollte er sich mit dem bloßen Eindruck nicht begnügen, sondern das Gesehene aus eigener Kraft nachmodellieren. Auch die Fremdheit, die dieses Fixieren des Nichtfixierbaren erzeugt, war ihm anlässlich eines solchen Versuchs bereits bewusst geworden:
»Als ich beim Doktor wartete sah ich das eine Schreibfräulein an und dachte darüber nach, wie schwer ihr Gesicht selbst während des Anblicks festzustellen sei. Besonders die Beziehung zwischen einer auseinandergezogenen ringsherum fast in gleicher Breite über den Kopf vorragenden Frisur zu der meist zu lang erscheinenden geraden Nase verwirrte. Bei einer auffallenderen Wendung des gerade ein Aktenstück lesenden Mädchens wurde ich durch die Beobachtung fast betroffen, dass ich durch mein Nachdenken dem Mädchen fremder geblieben war, als wenn ich mit dem kleinen Finger ihren Rock gestreift hätte.« [85]  
{102}
    Der kleine Finger am Rock wäre Erleben, stattdessen bleibt ihm nur das Bild. Es zeigt sich, dass Kafkas befremdlich unerotisches Registrieren alles andere als eine Abwehrgeste ist. Sein Blick ist nicht emotionslos genau, er ist verzweifelt genau: der Versuch, das Sehen (und in dessen Gefolge die Reflexion des Gesehenen) zu solcher Intensität zu steigern, dass es in Erleben umschlägt. Doch die Beziehung, die der Gedanke erzeugt, kann niemals mehr sein als eine erdachte Beziehung. Die Erfahrung weiblicher Nähe, nach der Kafka sich sehnt, ist auf körperlose Weise nicht zu erzwingen, die ausgestreckte Hand durch kein Medium zu ersetzen. Das bereits fünf Jahre alte und schon zweimal veröffentlichte Prosastück DER FAHRGAST, das Kafka in den Band BETRACHTUNG aufnahm, ist gleichsam die Versuchsanordnung, welche die endgültige Falsifikation liefert:
»Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig.
Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte. Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus weißer kleinmaschiger Spitze, die linke Hand hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel.
Ich fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht

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