Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Fräulein damit eigentlich anfangen? Die zahllosen Negationen und Einschränkungen, die Klagen über die eigenen »Nervositäten« konnte man noch als selbstironische Spielerei übergehen – es sollte noch vieler Wiederholungen bedürfen, ehe Felice den Ernst dieser Klagen erkannte. Und die ein wenig übertriebene Freude über ihren Brief war natürlich Schmeichelei. Doch was war von den unterschwellig intimen Signalen zu halten, der fordernden Dringlichkeit, dem »wir« und der »Tür zwischen uns«? Und vor allem: Hatten diese saugenden Sätze nicht den unheimlichen Unterton des Manischen? Auch wenn Felice Bauer diesen Brief nicht mit sprachkritischem Blick gelesen hat, so dürfte ihr dessen extreme Selbstbezüglichkeit wohl kaum entgangen sein: ein Brief, der fast ausschließlich von Briefen handelte, ein Schreiben über das Schreiben.
Doch Kafka wusste sehr genau, was er tat, und als der Verdacht in ihm aufkeimte, man habe den Ton, den er hier anschlug, womöglich als exzentrische Pose missverstanden, geriet er fast in Empörung. Vor wenigen Tagen hatte sich sein Leben auf schwindelerregende Weise intensiviert, seit wenigen Tagen erst begriff er, dass die so lange ersehnte Intensität nun Wirklichkeit war und dass man sie festhalten konnte. Und darum sprach er von nichts anderem als von der Intensität des Schreibens, und darum konnte er nicht anders schreiben als mit der Intensität eines Ausbruchs, der sich – von innen betrachtet – gar {127} nicht abhob von der entfesselten Dynamik, sie vielmehr wahrheitsgetreu abbildete. Kafka wusste, dass er damit gemäß den Spielregeln, die für jede Form sozialer Verständigung gelten, den Einsatz beträchtlich erhöhte. Sein erster Brief hatte noch ein ganzes Spektrum unverbindlicher Antworten zugelassen, sein zweiter nicht mehr; jener war ein origineller, wenngleich zu nichts verpflichtender Eröffnungszug gewesen, dieser war bereits ein Gambit, dessen Annahme einiges an Risikobereitschaft voraussetzte. Es war starker Tobak, jemandem ein Tagebuch, mithin die denkbar persönlichsten Mitteilungen abzuverlangen – mit der Begründung, man kenne sich ja noch gar nicht. Das war eine Finte, deren offenkundige Komik auch Kafka kaum übersehen haben wird. Doch es blieb ihm gar nichts anderes übrig als darauf zu bauen, dass die Lebensklugheit, die er an Felice diagnostiziert hatte, den wahrhaftigen Impuls hinter diesen aufgeregten und ein wenig zudringlichen Zeilen schon erkennen und würdigen werde.
Für den Augenblick hatte Kafka dieses Vertrauen; doch er war außerstande, das unsichere, provisorische Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz zu ertragen, das jede Annäherung zwischen Menschen anfänglich charakterisiert. Er wusste, dass er warten musste. Doch wenn er sich nach der glücklich verzehrenden Arbeit am HEIZER gegen zwei oder drei Uhr in der Nacht zu Bett legte, so konnte es geschehen, dass sein Gehirn endlose Briefe zu phantasieren begann, hämmernd, in immer neuen Anläufen, bis zum Morgengrauen. Zweimal hielt er diesem Druck nicht mehr stand und richtete tatsächlich ein paar Zeilen an sie: Von einer »nicht zu regierenden Pflicht«, ihr zu schreiben, war da die Rede, und für einen Augenblick enthüllte er gar den heißen Kern einer mütterlichen Imago: »Zu wem zu klagen, wäre mir jetzt gesünder als zu Ihrer grossen Ruhe?« [103]
Das konnte man unmöglich abschicken, und Kafka verschloss diese Blätter klugerweise in der Schublade seines Schreibtischs. Was war zu tun? Das Berliner Fräulein schwieg. Hatte man ihr etwa seinen zweiten Brief vorenthalten, um die gemeinsame Palästinareise zu sabotieren? Kafka verwarf diesen Gedanken, hatte er selbst doch schon diesen Plan mit einem einzigen, flüchtigen Satz auf Eis gelegt, um ihr weitere Verlegenheiten zu ersparen. Doch die glückliche Erregung der ersten Tage, die ihm zu einer vibrierenden, scheinbar unerschöpflichen Konzentration verholfen hatte, drohte nun allmählich in ein lähmendes, leeres Warten überzugehen, das den Schreibfluss wieder {128} versiegen ließ. Das durfte keinesfalls geschehen. Am 13.Oktober – seit zwei Wochen schon war sein Brief unbeantwortet – fasste Kafka den Vorsatz, sich noch einmal, und diesmal etwas energischer, in Erinnerung zu rufen:
»Warum haben Sie mir denn nicht geschrieben? – Es ist möglich und bei der Art jenes Schreibens wahrscheinlich, dass in meinem Brief irgendeine Dummheit stand, die Sie beirren konnte, aber es ist nicht möglich, dass Ihnen die
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