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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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gute Absicht auf dem Grunde jedes meiner Worte entgangen wäre. – Sollte ein Brief verloren gegangen sein?« [104]  
    Leider vermochte er diesen aufrechten Ton nicht lange durchzuhalten, und wenige Sätze später mündete auch dieser Brief in einen Tagtraum, der ihn vor die Wohnungstür der Geliebten führt, wo er, als Briefträger in eigener Sache, rücksichtslos die Türglocke malträtiert: »zu einem alle Spannung auflösenden Genuss!« Kafka wird selbst erschrocken sein über die offen sexuelle Konnotation dieses Bilds – nein, es war vergebliche Mühe, auch diesen Brief konnte man nicht zur Post bringen, ohne Gefahr zu laufen, von der womöglich mitlesenden Familie Bauer für verrückt erklärt zu werden.
    Am folgenden Abend war Kafka, wie fast jeden zweiten Tag, wieder einmal zu Besuch im Hause Brod. Der vertrauten Umgebung war durch die Erinnerung an Felices Auftreten eine neue, eigentümliche Bedeutung erwachsen, und auch Brods Familie wird mehr als einmal auf jenen denkwürdigen Abend angespielt haben. Denn selbstverständlich war man unterrichtet darüber, dass Maxens bester Freund sich glücklich-unglücklich verliebt hatte, und Kafkas auffallend gesteigerte Lebhaftigkeit ließ daran auch wahrhaftig keinen Zweifel. Mit umso größerem Genuss konnte man ihm, der schon erste Zeichen von enttäuschter Hoffnung erkennen ließ, heute eine besondere Überraschung bereiten.
    Die Eltern hatten einen Brief von ihrer Tochter Sophie erhalten, der in Breslau lebenden Schwester von Max, und in diesem Brief fand sich eine Bemerkung, die Kafka geradezu erstarren ließ: Felice Bauer, so hieß es dort, die Cousine ihres Mannes, stehe in »lebhafter Korrespondenz« mit Dr.Kafka. Eine Falschmeldung, ein Gerücht, ein elendes Missverständnis, kein Zweifel, aber auch eine unheimlich anmutende Fügung. Denn genau das, was Kafka so heftig imaginierte, dass ihn die Wirklichkeit zeitweilig nur noch wie ein Hintergrundgeräusch erreichte, wurde hier ganz beiläufig zum Faktum erklärt. Wenn das {129} Wort vom ›Wink des Schicksals‹ – eine Phrase, die Kafka niemals gebraucht hat – irgend Berechtigung hatte, so in diesem Fall.
    Noch in derselben Nacht bat er Sophie Friedmann um Aufklärung. Er machte gar keinen Hehl daraus, dass er auf ihre Vermittlung hoffte, und um sie mit advokatorisch präzisen Fakten auszurüsten, schilderte er ihr den genauen Hergang seiner bisher eher kläglich verlaufenen Versuche, Fräulein Bauer zum Schreiben zu bewegen. Der Brief ist ein Musterbeispiel für Kafkas Fähigkeit, eine entwaffnende, scheinbar bis zur Schädigung der eigenen Interessen reichende Offenheit geschickt zu verbinden mit diplomatischer Raffinesse. Wobei ein wesentliches Moment dieser Diplomatie eben darin bestand, jene Offenheit in unaufdringlicher, ironischer Weise zu thematisieren und damit die Form der Botschaft zur eigentlichen Botschaft zu machen:
»Im Laufe dieser 16 Tage habe ich, um meine Aufrichtigkeit Ihnen gegenüber voll zu machen, noch zwei allerdings nicht abgeschickte Briefe an das Fräulein geschrieben, und sie sind das einzige, was mir, wenn ich Humor hätte, erlauben würde, von einer lebhaften Korrespondenz zu sprechen.« [105]  
    Ein höflich gedämpfter, doch umso wirkungsvollerer Hilferuf, den Sophie – von ihrem Bruder Max vielleicht schon auf die Dringlichkeit der Sache hingewiesen – postwendend beantwortete. Nein, es war nicht nur so dahingesagt, dass Felice Bauer eine lebhafte Korrespondenz nach Prag unterhält, vielmehr eine von ihr selbst konstatierte Tatsache. Zum Beweis zitierte Sophie wörtlich die entsprechenden Sätze aus einem Brief Felices – nicht ganz eindeutige Worte freilich, aus denen Kafka nach mikroskopischer Lektüre immerhin die Erkenntnis zu filtern vermochte, dass sein in glücklich-gedankenloser Erregung verfasster vierseitiger Briefmonolog in Berlin gnädig aufgenommen und womöglich längst beantwortet worden war, während er die eingehende Büropost seit Wochen vergeblich durchwühlte. War es denn möglich: ausgerechnet dieser Brief verloren?
    Kafka und Felice Bauer haben sich später stillschweigend darauf verständigt, die Legende vom verlorenen Brief aufrechtzuerhalten. Eine Zeitlang bemühte er sich, Felice zur Rekonstruktion ihrer Antwort zu veranlassen; die überlieferte Korrespondenz bietet jedoch keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass sie auf diese Bitten eingegangen wäre. Er musste sich mit dem Wahrscheinlichsten abfinden – und das Wahrscheinlichste war,

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