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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Anfang Dezember ausgeliefert wurde, enthielt auf jeder ihrer 99 Seiten so wenige Worte, dass er sich an die Gesetzestafeln Moses erinnert fühlte. Jenen tastenden, {122} schwebenden, bisweilen wie im freien Fall formulierten Sätzen in dieser gemeißelten und gleichsam für die Ewigkeit bestimmten Gestalt wiederzubegegnen, weckte zwiespältige Gefühle und trübte ein wenig den Stolz des ›ersten Buchs‹, dem Kafka sich wie jeder andere Autor eine Zeitlang ergab.

{123} Beinahe ein Fenstersturz
Die Plagen sind wohl gestaffelt, und im Grunde hat Hiob recht und nicht der Herr. Das geht bei Kleinigkeiten los.
Thomas Kapielski, DAVOR KOMMT NOCH
    Auch Felice Bauer holte der Alltag ein. Die Einblicke in das Familienleben eines berühmten Prager Schriftstellers; die Hotelzimmer und Eisenbahncoupés; die Sorgen der Schwester Else und ihres ungarischjüdischen Ehemannes in Budapest; die Begegnung mit einem Freund, wahrscheinlich einem Jugendfreund, auf der Rückreise in Breslau – es gab viel zu erzählen in Berlin, und die an Felices Selbständigkeit seit langem gewöhnte Familie konnte wieder einmal mit Behagen konstatieren, dass auf dieses »Mädchen« Verlass war: Felice wusste sich in der Welt zu bewegen und fand dennoch pünktlich und unversehrt nach Hause zurück.
    Freilich, die versprochene Palästinareise … Ein solches Abenteuer war mit Tüchtigkeit allein nicht zu bewältigen, hier waren ganz andere Misshelligkeiten zu erwarten als ein im Schnellzug nach Prag vergessener Regenschirm. Hatte Felice das wirklich bedacht bei ihrer allzu spontanen Verabredung? Und wer war überhaupt dieser Kafka, dieser unter Brods Fittichen schriftstellernde Jüngling (sie hielt ihn für etwa gleichaltrig), von dem in Berlin noch kein Mensch gehört hatte? Im Grunde doch nicht mehr als eine flüchtige Reisebekanntschaft, über deren Reputation Felice nur vage Auskünfte zu geben vermochte. Die Eltern waren alles andere als erbaut, und auch in Felice – so darf man vermuten – werden Zweifel erwacht sein, nachdem sich die schwungvolle Unbedenklichkeit ihrer Reise unter dem Eindruck sachlich nur allzu berechtigter Fragen verflüchtigt hatte.
    Doch ihr Wort galt. Auch wenn Kafka vielleicht allzu viel Aufhebens um Felices Handschlag machte und die Erinnerung daran hütete, als handele es sich um einen beglaubigten Wechsel, so tat er doch recht {124} daran, diese männliche Geste nicht als konventionellen Scherz abzutun: »Wenn Sie nun«, so hatte er diplomatisch, doch unverkennbar appellativ formuliert, »diese Reise noch immer machen wollen – Sie sagten damals, Sie wären nicht wankelmüthig, und ich bemerkte auch an Ihnen nichts dergleichen … « [101]   Das wirkte – umso mehr, als diese dezente Mahnung mit sechswöchiger Verzögerung eintraf und von Felice insgeheim eher befürchtet als tatsächlich noch erwartet worden sein dürfte. Einige Tage Bedenkzeit benötigte sie, um eine zwischen Offenheit und Vorsicht ausbalancierte Antwort zu finden, und auch die Mahnungen der Mutter durften nicht übergangen werden, doch antworten musste sie schließlich, das gebot allein die Höflichkeit gegenüber den Brodschen Gastgebern. Was jener junge Mann eigentlich bezweckte, inwieweit man ihn überhaupt ernst nehmen durfte, davon hatte Felice Bauer keinerlei Vorstellung, und noch weniger konnte sie erraten, dass jedes noch so harmlose Wort, mit dem sie Kafkas gespielt-schwungvolles Anklopfen beantwortete, wie ein Funke auf eine Lunte fallen konnte.

    Am Samstag, dem 28.September 1912, einem warmen, sonnigen Herbsttag, ging Kafka leise singend durch die menschenleeren Korridore der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. Es war Feiertag, der böhmische ›Wenzelstag‹, und nichts hätte ihn dazu veranlassen können, heute Vormittag den Posteingang zu kontrollieren, wäre ihm nicht das Schweigen des Fräulein Bauer mittlerweile schon als gar zu beharrlich erschienen. Eine begreifliche Täuschung, folgte doch Kafkas Leben jetzt einem anderen, gleichsam inwendigen Kalender. Innerhalb der kurzen Zeitspanne, da man in Berlin noch über die Palästinafahrt beratschlagte – mehr als sechs Tage können es nicht gewesen sein –, hatte er die nächtliche Geburt seiner ersten »zweifellosen« Geschichte erlebt, er war damit zu Freunden gelaufen, hatte vorgelesen, war wie unter einer inneren Peitsche zurück an den Schreibtisch geeilt, überschwemmt von Bildern, deren beängstigende Präzision er festzuhalten suchte. Kafka schlief kaum mehr, er

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