Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
freien Nachmittagen für ein, zwei Stunden nach Žižkov zu fahren. Und selbst, wenn sie den Freizeitbeschäftigungen ihres Sohnes nur einen Bruchteil von deren wahrer Bedeutung beigemessen hätten: Für die am Ende ihres sechsten Lebensjahrzehnts angelangten Eltern, deren Werktag doppelt so lang war wie Kafkas Bürostunden, war schlechterdings nicht einzusehen, wieso für einen jungen Mann von 29 Jahren das tägliche Nickerchen wichtiger sein sollte als eine familiäre Verpflichtung von solchem Gewicht. Ganz zu schweigen davon, dass ja Kafka mit Problemen {132} der industriellen Produktion beruflich zu tun hatte und unmöglich so ahnungslos und praktisch unbeholfen sein konnte, wie er es gegenüber dem Schwager (und insgeheim sogar gegenüber sich selbst) darstellte.
Diese angespannte Situation drohte nun vollends zu explodieren, als Karl Hermann eine knapp zweiwöchige Dienstreise antreten und die Fabrik der Aufsicht des ›reichsdeutschen‹ Werkmeisters überlassen musste. Die Rechenschaftsberichte von Ellis Ehemann hatte Kafkas Vater von jeher mit Misstrauen aufgenommen, und hätte ihm die Agilität des jungen Geschäftsmannes nicht einen gewissen Respekt abgenötigt – im Grunde war das doch ein Schwiegersohn nach seinem Geschmack –, so wäre wohl schon im Frühjahr der Eklat unvermeidlich gewesen. Nun aber, da das ökonomische Schicksal der Familie in die Hände eines Fremden gelegt werden sollte (und gar in die eines Ausländers), war der alte Kafka überzeugt, dass das Unternehmen in kürzester Frist an Betrug und Misswirtschaft zugrunde gehen würde. Jetzt galten keine Ausflüchte mehr, Franz musste in die Fabrik, und zwar täglich, wenn die Katastrophe noch abgewendet werden sollte.
Freilich hatte sich Hermann Kafka, den das feindselige Schweigen des Sohns zur Weißglut brachte, schon seit längerem darauf verlegt, die offene Konfrontation zu meiden und stattdessen indirekten Druck auszuüben, vorzugsweise über seine Frau, die ja den ganzen Tag in seiner Nähe verbrachte und daher seinen Tiraden weitgehend ausgeliefert war. Ihre Funktion war es, diese Anklagen in einer weniger beleidigenden, dafür effektiveren, weil an das Gewissen des Adressaten appellierenden Form weiterzuleiten – eine traurige Aufgabe, deren fragwürdiger Gewinn darin bestand, dass sie ihre eigenen Interessen bisweilen mit der geliehenen Autorität des Familienpatriarchen ummanteln und auf diese Weise ex officio zur Geltung bringen konnte.
Dieses seit Jahren eingeschliffene Ritual wäre auch am Abend des 7.Oktober nicht wirkungslos, aber doch ohne äußere Folgen an Kafka vorübergezogen, hätte nicht diesmal auch Ottla in den Chor der Kläger eingestimmt. Wahrscheinlich war ihr bewusst, dass das ewige Lamento, allein der Franz sei schuld an der Verbitterung und an der schlechten körperlichen Verfassung des Vaters, ungerecht und eigentlich würdelos war. Doch warum ihr Bruder in der nun eingetretenen Notsituation nicht wenigstens für kurze Frist den Schwager vertreten konnte, wozu ja seine demonstrative Anwesenheit in der Fabrik genügt {133} hätte, das vermochte sie nicht einzusehen. Natürlich wusste sie, dass er in der Nacht an einem Roman arbeitete, und wie rasch die Intensität des Schreibens ihn dem Trübsinn des vergangenen Jahres entrissen hatte, konnte ihr nicht entgangen sein. Doch dem Argument, ohne die Einlassungen des Bruders sei dieses verfluchte Unternehmen schließlich nie gegründet worden, konnte auch sie sich nicht entziehen – zumindest für den Augenblick.
Kafka geriet in Panik. Dass Ottla, seine einzige Vertraute, sich im Beisein der Mutter in einer so wichtigen Sache gegen ihn stellte, traf ihn am empfindlichsten Punkt, repräsentierte sie doch die letzte ihm verbliebene Verbindung zum Blutkreislauf der Familie. Ihre Abkehr bedeutete endgültige Ausstoßung, ein neuerliches »Urteil«, dessen verheerende Wirkung sich wenige Wochen später zum geschwisterlichen Bannfluch der VERWANDLUNG verdichten sollte. Warum verriet ihn die Schwester? Waren womöglich seine eigenen Schuldgefühle auf sie übergegangen, um sich gleichsam zu vervielfachen und ihn fortan von innen und von außen zu peinigen? Das war eine Deutung, zu der sich Kafka allzu bereitwillig überredete, nur um die Wut, die unbezähmbar in ihm aufstieg, nicht sogleich auch gegen Ottla richten zu müssen. Warum aber konnte nicht auch ein Abglanz jenes Selbstbewusstseins auf sie übergehen, das ihm aus der Arbeit am VERSCHOLLENEN erwuchs,
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