Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
dass sie seinen zweiten Brief wohl hatte beantworten {130} wollen und darum ein wenig voreilig bereits von einer »Korrespondenz« gesprochen hatte, dass aber dieser Brief als weniger wichtige und vielleicht auch ein wenig lästige Verpflichtung liegen geblieben und in Felices hektischem Alltag untergegangen war. Ein harmloses Versäumnis, das sie später – was blieb ihr anderes übrig? – mit einer ebenso harmlosen Notlüge kaschierte. Dass schon hier ein Verhaltensmuster sich andeutete, das Kafka im folgenden Jahr bis an den Rand seiner Leidensfähigkeit quälen würde, konnte er glücklicherweise nicht ahnen. Noch oft würde Felice Briefe ankündigen, die sie – völlig aufrichtig – für so gut wie geschrieben hielt, die sich dann aber aus den verschiedensten äußerlichen Anlässen tagelang verzögerten. In welchem Maß derartige nicht eingelöste Versprechen das äußerst fragile und immer mühsamer sich erholende Vertrauen Kafkas zerrütteten, konnte Felice, die ihre Verlassenheitsängste auf völlig andere Weise kompensierte, niemals wirklich nachempfinden.
Kafka hatte mit jenem »Regen von Nervositäten«, der ununterbrochen auf ihn niedergehe, nicht im mindesten übertrieben. Wie instabil und wie kränkbar er in jenen Tagen tatsächlich war, illustriert schockhaft ein Vorfall, der sich gleichfalls innerhalb der initialen »Wartezeit« seiner Korrespondenz mit Felice abspielte und ihn für einige Stunden auf den Grund seiner psychischen Selbstheilungskräfte führte. Es ging wieder einmal um die ›Prager Asbestwerke‹, jenes seit einem Jahr mühsam sich behauptende Kafkasche Familienunternehmen, das, statt endlich bescheidene Erträge abzuwerfen, Anlass ständiger Erregungen und Streitigkeiten war. Man hatte sich, wie schon wenige Monate nach Aufnahme der Produktion deutlich wurde, ökonomisch völlig verkalkuliert. Die Kapitalbasis war zu dünn und musste aufgestockt werden, Hermann Kafka jedoch war nicht bereit, den Spieleinsatz weiter zu erhöhen, nachdem er bereits die Mitgift Ellis und den Anteil von Franz, der ja gleichfalls aus seiner Kasse stammte, unwiederbringlich versickern sah. Nachdem auch Ellis Ehemann Karl, der sich mit der Leitung der Fabrik allein gelassen sah, keinen Rat mehr wusste, blieb schon im Mai 1912 kein anderer Weg, als den wohlhabenden ›Madrider Onkel‹ um ein Darlehen anzugehen – für die geschickte Formulierung des Bittbriefs war selbstverständlich Franz zuständig –, und hätte Alfred Löwy diesem für alle Seiten peinlichen Ansinnen {131} nicht entsprochen, wäre das Unternehmen vielleicht nicht einmal zu einer ersten Jahresbilanz gelangt.
Da man dem Schwiegersohn irgendwelche Versäumnisse nicht wirklich beweisen konnte, hielt man sich an den nächsten Schuldigen dieser Malaise, an den so fatal desinteressierten Sohn Franz. Vergeblich waren alle Mahnungen, dass er als Stammhalter und als Firmenteilhaber die Pflicht habe, darüber zu wachen, wie mit dem Kafkaschen Vermögen umgegangen wird. War nicht schließlich er es gewesen, der dem Vater geraten, ja angeblich sogar ihn gebeten hatte, Ellis Mann das nötige Startkapital zur Verfügung zu stellen? Doch nicht einmal die Tatsache, dass er juristisch mit seinem gesamten Besitz für die Verluste der Fabrik einstand, konnte ihn dazu bewegen, mehr als zwei- oder dreimal monatlich das Kontor aufzusuchen, lustlos im Kassabuch und in der Gummi-Zeitung zu blättern oder irgendwelchen amtlichen Besuch in der Werkstatt herumzuführen.
Tatsächlich zeigte Kafka wieder einmal jene »Halsstarrigkeit«, die seiner Umgebung bestens vertraut war. Die Sorgen um die Fabrik quälten ihn, doch den dröhnenden Vorhaltungen des Vaters und dem leiseren, doch umso nachdrücklicheren Jammern der Mutter begegnete er immer häufiger mit Schweigen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man das Experiment schleunigst abgebrochen und das Geld in den Wind geschrieben. Denn der kontrarhythmische Tagesablauf, den er im September eingeführt und trotz aller Störungen beibehalten hatte, duldete keine weiteren Belastungen, und das nächtliche Schreiben, auf das nun alle anderen Aktivitäten ausgerichtet waren wie die Vektoren eines Magnetfelds, kostete körperliche und geistige Energie, die der kurze Nachmittagsschlaf mühsam genug kompensierte. Kafka nahm sich die Freiheit, zu schlafen, wenn andere arbeiteten; genau dies aber war für die Familie der unwiderlegliche Beweis dafür, dass es nichts als Trägheit war, die ihn daran hinderte, an den
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