Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
war überwach, ganz und gar auf sich fokussiert; und während er noch auf Antwort wartete, die stündlich eintreffen konnte, eintreffen musste , saß er schon über den ersten Seiten des HEIZERS, eingehüllt in die nächtliche Phantasmagorie eines erträumten Amerika.
Doch nun, inmitten der fremden Stille des Büros, war die Antwort da, tatsächlich, ein Brief in großer, klarer, fast kindlich-runder Schrift, {125} wohl überlegte Sätze, in denen vom Widerstand der Eltern die Rede war, ohne jedoch daraus ein klares Ja oder Nein abzuleiten. Ansonsten freundlich-unverbindliche Erkundigungen nach Brods Operettenaufführung und nach Kafkas Manuskriptblättern, Grüße an alle, und als einziger Reflex einer geheimen Verwunderung die Frage, woher er denn eigentlich ihre Adresse habe.
Kafka konnte seine Erregung nicht mehr bezähmen. Dies war nicht mehr Traum, Reflexion, Beobachtung, dies war Wirklichkeit, eine wirkliche Berührung, eine Berührung durch Worte nur, aber doch Wirklichkeit. Konnte man jetzt noch von ihm verlangen, sich an die fein abgestuften Konventionen bürgerlichen Postverkehrs zu halten? Unmöglich, für Diplomatie war keine Zeit mehr, und hatte er an seinem ersten Brief noch tage- und nächtelang förmlich gearbeitet, so griff er diesmal, kaum hatte er Felice Bauers erste Zeilen gierig in sich aufgenommen, zu Papier, Tintenfass und Feder:
»Verehrtes Fräulein, entschuldigen Sie, dass ich nicht auf der Schreibmaschine schreibe, aber ich habe Ihnen so entsetzlich viel zu schreiben, die Schreibmaschine steht drüben im Korridor, ausserdem scheint mir dieser Brief so dringend […]
[…] was hat mein Jammerbrief alles leiden müssen, ehe er geschrieben wurde. Jetzt da die Tür zwischen uns sich zu rühren anfängt oder wir wenigstens die Klinke in der Hand halten, kann ich es doch sagen, wenn ich es nicht sogar sagen muss. Was für Launen halten mich, Fräulein! Ein Regen von Nervositäten geht ununterbrochen auf mich herunter. Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht. Wenn ich auf der Stiege oben bin, weiss ich noch immer nicht in welchem Zustand ich sein werde, wenn ich in die Wohnung trete. Ich muss Unsicherheiten in mir aufhäufen, ehe sie eine kleine Sicherheit oder ein Brief werden. Wie oft!, – um nicht zu übertreiben, sage ich an 10 Abenden – habe ich mir vor dem Einschlafen, jenen ersten Brief zusammengestellt. Nun ist es eines meiner Leiden, dass ich nichts, was ich vorher ordentlich zusammengestellt habe, später in einem Flusse niederschreiben kann. Mein Gedächtnis ist ja sehr schlecht, aber selbst das beste Gedächtnis könnte mir nicht zum genauen Niederschreiben eines auch nur kleinen vorher ausgedachten und bloss gemerkten Abschnittes helfen, denn innerhalb jedes Satzes gibt es Übergänge, die vor der Niederschrift in Schwebe bleiben müssen. Setze ich mich dann um den gemerkten Satz zu schreiben, sehe ich nur Brocken, die da liegen, sehe weder zwischen ihnen durch, noch über sie hinweg und hätte nur die Feder wegzuwerfen, wenn das meiner Lauheit entsprechen würde. Trotzdem aber überlegte ich jenen Brief, denn ich war ja gar nicht entschlossen, ihn zu schreiben und solche Überlegungen sind eben auch das beste Mittel, mich vom Schreiben abzuhalten […] {126} Aber auf solchem Wege komme ich zu keinem Ende. Ich schwätze über meinen vorigen Brief, statt Ihnen das Viele zu schreiben, das ich Ihnen zu schreiben habe. Merken Sie, bitte, woher die Wichtigkeit stammt, die jener Brief für mich bekommen hat. Sie stammt daher, dass Sie mir auf ihn mit diesem Brief geantwortet haben, der da neben mir liegt, der mir eine lächerliche Freude macht und auf den ich jetzt die Hand lege, um seinen Besitz zu fühlen. Schreiben Sie mir doch bald wieder einen! Nehmen Sie sich keine Mühe, ein Brief macht Mühe, wie man es auch anschaut; schreiben Sie mir doch ein kleines Tagebuch, das ist weniger verlangt und mehr gegeben. Natürlich müssen Sie mehr hinein schreiben, als für Sie allein nötig wäre, denn ich kenne Sie doch gar nicht. Sie müssen also einmal auch eintragen, wann Sie ins Bureau kommen, was Sie gefrühstückt haben, wohin die Aussicht aus Ihrem Bureaufenster geht, was das dort für eine Arbeit ist, wie Ihre Freunde und Freundinnen heissen … « [102]
Das war kein Brief, vielmehr die Karikatur eines Briefs, ein »Ausbruch«, wie er wenig später einräumte, und streng genommen eine Zumutung noch für die gutwilligste Empfängerin. Was sollte jenes ferne, fremde
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