Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
immerhin acht Arbeitsstunden gekostet hatte. Wahrhaft unheimlich erscheint diese Leistung, berücksichtigt man die Qualität und vor allem die Komplexität dieses Textes. DAS URTEIL ist ein Kammerspiel, eigentlich ein Zwei-Personen-Stück, denn die übrigen Gestalten – der ferne Freund, die Braut – sind lediglich Reflexionswiderstände ohne Fleisch und Blut. Das hat auch Kafka selbst so gesehen, der die Erzählung einmal mit Vorbehalt als »Rundgang um Vater und Sohn« bezeichnete. [99] DER HEIZER hingegen operiert bereits mit einer ganzen Hierarchie von Figuren, die nicht nur in ihrem Wesen und Ausdruck, sondern auch in ihrer sozialen Funktion und Interaktion präzise in ein Milieu eingepasst werden mussten, das Kafka aus eigener Anschauung überhaupt nicht kannte, das er sich lediglich ›angelesen‹ hatte. Trotzdem gelang es ihm, hier ohne die dem Jargontheater abgeschauten Schauspielergesten auszukommen, die dem URTEIL ein stellenweise komisch-theatralisches Moment verleihen. Mit unscheinbarsten Mitteln wird eine Spannung aufgebaut, von der man sofort begreift, dass sie durch das konventionelle Mittel eines tödlichen Ausgangs sich nicht wird auflösen lassen. Denn es ist eine Spannung, die aus der – den Zeitgenossen völlig ungewohnten – ›einsinnigen‹ Erzählperspektive herrührt, einer Perspektive, die ausschließlich das preisgibt, was sich innerhalb des Wahrnehmungshorizonts des Protagonisten befindet, wodurch der Leser wie im Sog eines Gravitationsfeldes in eine immer stärkere Identifikation mit dieser Figur gerät. Kafka hat diese für ihn sehr charakteristische Erzähltechnik in der VERWANDLUNG, im PROCESS und im SCHLOSS noch bedeutend verfeinert, am HEIZER jedoch hat er sie erfolgreich erlernt.
Dass dieser Text überdies in reinstem, in geradezu provozierend ›klassischem‹ Deutsch geschrieben ist, vermerkten schon die ersten Kritiker: eine Sprache wie polierter Marmor, deren Kühle niemals manieriert wirkt und die dennoch Dinge und Menschen wie unter Neonlicht überscharf hervortreten lässt; eine Sprache, aus der alles Spielerische, {121} ja überhaupt jede Spur eines erzählenden Ich getilgt ist. Dieser hermetische Perfektionismus, zu dem sich auch im späteren Werk wenig Vergleichbares findet, macht es unwahrscheinlich, dass Kafka die erste Fassung des VERSCHOLLENEN etwa nur ausgebessert oder überarbeitet hat. Es mag befremden, dass er die euphorisierende Schubkraft des URTEILS zunächst in den Dienst eines bereits aufgegebenen Plans stellte; doch besteht kein Zweifel daran, dass ihn dieser Schub über die ursprüngliche Konzeption weit hinausgetragen hat. [100] Nur konsequent daher, dass er jene erste Fassung schon bald vernichtete, wie so vieles zuvor – ein schlimmer Verlust für uns freilich. Denn ließe sich zeigen, dass die Strafphantasien, die im VERSCHOLLENEN erstmals den Zirkel der Familie sprengen, von der gesamten fiktiven Realität Besitz ergreifen und zum Strukturprinzip der Handlung werden – ließe sich zeigen, dass diese Phantasien von Anbeginn die treibenden Kräfte des Amerika-Projekts waren, so würde dies bedeuten, dass Kafka sein Leitmotiv bereits im Frühjahr 1912 entdeckt hatte, ohne noch über die handwerklichen Mittel zu verfügen, es in die adäquate Form zu bringen. Dann freilich wäre begreiflich, warum er die Nachbesserung der BETRACHTUNG wie eine lästige Pflicht absolvierte: Das waren Übungen, die einer vergangenen, nun endlich abzuschließenden Epoche angehörten. Von hier war die ersehnte Konzentration auf das Wesentliche nicht zu erwarten.
Nicht ohne Ironie daher, dass in die Krisenstimmung des September auch noch der Zusagebrief Kurt Wolffs platzte, mit dem Kafkas erste Buchpublikation besiegelt war. Wolff hatte sich vom dürftigen Umfang des Manuskripts nicht abschrecken lassen, verband jedoch die Annahme geschickt mit der Bitte, der Autor möge eigene Vorschläge zur Gestaltung äußern. Was blieb Kafka anderes übrig, als genau das vorzuschlagen, was Wolff wohl ohnehin vorhatte, nämlich die Texte durch Verwendung einer riesigen Schrifttype aufzupumpen und dadurch auf einen Seitenumfang zu bringen, der einen repräsentativen Einband noch eben rechtfertigte. So geschah es, und Kafka war von der großzügigen Ausstattung mit breitem Rand und getöntem Papier dann doch recht angetan. Freilich entging ihm nicht, dass die Bibliophilie hier zwangsläufig karikaturistische Züge annahm. Denn die Buchausgabe von BETRACHTUNG, die bereits
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