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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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man die private Bühne eines Menschen ausleuchten darf, der seinerseits in die Privatsphäre anderer starrt. Dass Kafka die Publikation seiner Briefe mit Entsetzen zurückgewiesen hätte, ist selbstverständlich; allein die lebenslange Verkennung des eigenen Werks scheint ihn davor bewahrt zu haben, ein mögliches öffentliches Interesse zu antizipieren. Ebenso wenig denkbar ist aber, dass er in einem vergleichbaren Fall – etwa den biographischen Zeugnissen um Flauberts Beziehung zu Louise Colet, die damals noch nicht publiziert waren – sich bereit gefunden hätte, als Herausgeber und damit als Agent eines ›interessierten Publikums‹ zu handeln.
    Die BRIEFE AN FELICE wurden relativ spät bekannt; in den von Max Brod besorgten Gesamtausgaben waren sie noch nicht enthalten. Lange Zeit konnte sich Felice Bauer nicht dazu entschließen, die Briefe für Forschungszwecke zugänglich zu machen, geschweige denn, sie zu veräußern. Im Jahr ihrer Emigration – sie lebte bereits in Los Angeles, das Briefkonvolut lagerte jedoch noch auf einem Dachboden in Genf – beantwortete sie eine entsprechende Anfrage ausweichend:
»Ich kann nicht sagen, ob und wann ich je wieder in den Besitz dieser Sachen [d. h. der zurückgelassenen Habe] gelangen werde, andererseits weiß ich auch noch nicht einmal, ob ich mich irgendwie von diesen Briefen, die für mich natürlich eine große Periode meines Lebens bedeuten, trennen würde. Sei es auch nur für eine gewisse Zeit. Diese Briefe sind ja aber auch ganz persönlich und stammen aus einer Zeit des schwersten Kampfes, dem leider durch körperliches Leid ein Ende gesetzt wurde und sozusagen seinem Streben nach Verzicht die Krone aufgesetzt wurde [sic]. Er, der das Leben so geliebt hatte, mußte darauf verzichten, es zu Ende zu leben und sein Werk zu vollenden.« [110]  
    Erst 1955, als sie schwer erkrankte und dadurch in eine finanzielle Notlage geriet, gab sie dem Drängen der Familie widerstrebend nach (»Die Briefe sind das einzige, was ich noch habe.«) und verkaufte die Briefe für den heute marginalen Betrag von 8000 Dollar an den Schocken Verlag in New York. Vor der Übergabe jedoch las sie nächtelang in den alten Blättern und stieß dabei auf einige Briefe aus allerdunkelsten Tagen, deren Preisgabe an eine anonyme Leserschaft sie nicht über sich brachte. Diese Briefe hat sie vernichtet.
    1967, sieben Jahre nach Felice Bauers Tod, erschien dann die erste Ausgabe, die als äußerst bedeutsames Korrektiv auch Kafkas Briefe an Felices Freundin Grete Bloch enthielt. Plötzlich erweiterte sich das Wissen über Kafkas Lebensumstände um ein Vielfaches. Denn im Gegensatz zu den Tagebüchern oder den Briefen an Brod, die das Selbstverständliche stillschweigend voraussetzen, hatte ja Kafka gegenüber Felice Bauer zunächst einmal ein Bild seines Alltags zu entwerfen. So groß sein Widerwille gegen den bloßen Treibsand des Faktischen auch war, wenn es um das Mitteilen des eigenen Lebens ging – hier war es unumgänglich, zu erzählen und dabei genau zu sein: Ess- und Schlafgewohnheiten, Kleidung, Krankheiten, Familienleben, Freunde, Büroarbeit, Reisen. Allein die BRIEFE AN FELICE bieten ein zusammenhängendes Bild von Kafkas Mikrowelt, und zwar keineswegs nur für die Jahre zwischen 1912 und 1917, sondern weit in die Vergangenheit {144} zurückreichend; ein Bild, das so reich an Einzelheiten ist, dass selbst die bewussten Auslassungen plastisch hervortreten. Es gibt Tage in Kafkas Leben, die sich allein aufgrund dieser Quelle Stunde für Stunde rekonstruieren lassen.
    Allerdings, es fehlt die zweite Stimme. Die mehr als 400 Briefe, die Kafka von Felice Bauer erhalten haben muss, verbrannte er, nachdem die fortschreitende Entfremdung zu einer definitiven Trennung geführt hatte. [111]   Das verleiht dem gesamten Briefkorpus den Charakter eines monströsen Monologs, und zwar auch dort, wo Kafka Fragen stellt oder beantwortet, wo er Ratschläge gibt oder von Felice mitgeteilte Ereignisse kommentiert. Es ist, als belauschte man jemanden beim Telefonieren: Mit fortschreitender Dauer entsteht unweigerlich der Eindruck einer gewissen selbstbezüglichen Redseligkeit und Redundanz, da ja der Anteil des fernen Gesprächspartners an den Wiederholungen, Nuancierungen, Andeutungen und privatsprachlichen Kürzeln verborgen bleibt.
    Die landläufige These, Felice Bauer sei für Kafka eine Art leere Leinwand gewesen, die er nach Belieben mit Projektionen füllte, verdankt sich nicht zum

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