Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
die ehernen {137} Regeln der innerfamiliären Amtswege wenigstens für diesmal außer Kraft zu setzen und den Patriarchen an ihrer Seite offen mit einer Situation zu konfrontieren, in der vielleicht mehr auf dem Spiel stand als ein paar tausend Kronen. Nein, schrieb sie an Brod, der Vater dürfe seiner Krankheit wegen auf keinen Fall aufgeregt werden, und daher könne es nur eine Lösung ohne ihn geben. Man werde ihm eben vorspiegeln müssen, Franz gehe brav in die Fabrik; unterdessen werde sie aber jemand anderen bitten, dieses Geschäft zu übernehmen – wobei sie an einen jüngeren Bruder Karl Hermanns dachte, den kurioserweise Kafka in seinem Brief an Brod ausdrücklich für ungeeignet erklärt hatte.
Diese banale Verschwörung, die eigentlich nur in einer stummen Familie funktionieren konnte, scheint den Konflikt um die Fabrik tatsächlich für einige Wochen entschärft zu haben. Kafka wandte sich wieder dem Roman und seiner Berliner Sehnsucht zu, und aus den erhaltenen Zeugnissen verschwindet die »Fabrik« mit befremdender Plötzlichkeit. Doch das nervenzerreißende Schweigen, mit dem dieser Aufschub erkauft war, pflanzte sich gleich einer Welle in die Zukunft fort. Monate später, am 30.Januar 1913, wird Kafka an Felice schreiben: »Nun bedenke aber, dass ich ausser der Bureauarbeit fast gar nichts mache und meinen Vater wegen meiner Vernachlässigung der Fabrik kaum anzuschauen, wie denn erst anzureden wage.«
Man stößt in Kafkas Biographie immer wieder auf Episoden, die – obgleich sie mit aller wünschenswerten Genauigkeit und häufig sogar aus mehreren Perspektiven dokumentiert sind – doch in einem eigentümlichen Zwielicht verbleiben, in einem Halbdunkel, das die Neugierde und den Zweifel wach hält, ja, den Leser womöglich zur Überzeugung gelangen lässt, es sei alles ganz anders gewesen und er sei um das Entscheidende betrogen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass hier offenbar so etwas wie Gegenübertragung stattfindet und man allzu leicht in die hermeneutisch zweifelhafte Position verfällt, Kafka an dessen eigenen puristischen Maßstäben zu messen: Es bleibt eine Unschärfe, ein Flimmern an den Rändern des Faktischen, das seine Ursache keineswegs allein im Auge des Betrachters hat. Es ist, als kristallisierten sich um den zerrissenen, ambivalenten Charakter Kafkas fortwährend ambivalente Ereignisse von objektiver Unauflösbarkeit.
Die ›Selbstmord‹-Episode vom Oktober 1912 bietet für dieses Phänomen {138} eines der eindrucksvollsten Beispiele. Wobei es nicht etwa um die psychologisch naive Frage gehen kann, wie nahe Kafka dem Tod ›wirklich‹ war – eine Frage, die mangels eines brauchbaren Modells solcher destruktiver Entscheidungen niemals plausibel zu beantworten ist, schon gar nicht aus der mentalen Distanz, welche die Geschichte uns aufzwingt. Doch wirft diese Episode bei näherem Zusehen Fragen auf, die weniger leicht von der Hand zu weisen sind, und sie zeigt Facetten, die man – ginge es hier nicht um Leben und Tod – als grotesk bezeichnen müsste. Was bezweckte eigentlich Kafka mit seinem Brief an Brod, oder, neutraler gefragt, welchem psychischen Impuls folgen seine Sätze? Dass er sich trotz seines verzweifelten Zustands hierüber durchaus Rechenschaft ablegte, beweist die kryptische Bemerkung, seine »Eingebungen« für den Brief gingen »in anderer Richtung«, eine Andeutung, die durch das semantische Spiel vom »Abschieds-« und »Wiedersehensbrief« keineswegs gedeckt ist. Der Gedanke (nein, nicht der ›Verdacht‹) drängt sich auf, dass Kafka in vollstem Bewusstsein einen Notruf formuliert hat, den Brod unmöglich mit bloßen Beschwichtigungen hätte beantworten können. Dafür spricht auch, dass Kafka zwar aufrichtigerweise die Vorhaltungen der Familie und besonders Ottlas als Auslöser seines Zustands nennt, dann aber ganz den Roman und dessen drohenden Abbruch in den Vordergrund stellt. Die Alternative, wie sie sich aus Brods Perspektive nun darstellen musste, lautete: Fortführung des Romans oder Tod des Autors durch Sprung aus dem Fenster – und Kafka muss gewusst haben, welcher herzklopfenden Ungeheuerlichkeit er seinen Freund und Impresario damit aussetzte, nachdem er ihm erst vorgestern den ersten Blick auf das Werk gestattet hatte.
Wie aber wäre Brod zumute gewesen, hätte er den folgenden, genau sechs Monate zurückliegenden Tagebucheintrag Kafkas gekannt: »Vorgestern Vorwürfe wegen der Fabrik bekommen. Eine Stunde dann auf dem Kanapee
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