Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
über Aus-dem-Fenster-springen nachgedacht.« Damals, Anfang März, beschränkte sich Kafkas literarische Produktivität auf flüchtige Vorsätze und auf das Durchblättern und Vernichten älterer Manuskripte, die ihm »widerlich« geworden waren. [108] Nichts fand sich auf seinem Schreibtisch, was einen ungestörten Tages- und Nachtrhythmus zwingend erfordert hätte. Gerade darum aber vermochte er seine Indifferenz vor der Familie und vor sich selbst noch viel weniger zu rechtfertigen. Dem fortwährenden Gepolter des {139} Vaters über die ausbleibende »Dankbarkeit der Kinder«, die auf seine Kosten »in Saus und Braus« lebten, hatte er nicht einmal stumm etwas entgegenzusetzen, und seine Gewohnheit (und ausgeprägte Fähigkeit), sich selbst in der imaginierten Perspektive anderer zu spiegeln, vermittelte ihm überscharf das Bild einer bühnenhaft absurden Familienszene: Während im Wohnzimmer Hermann Kafka und Karl Hermann, Schwiegervater und Schwiegersohn, um die Fortexistenz der ›Prager Asbestwerke‹ kämpften, lag nebenan, hinter verschlossener Tür, der verantwortliche »Teilhaber« ausgestreckt auf dem Kanapee und langweilte sich. Kafkas stets latent gegenwärtige Gefühle der Nutzlosigkeit und Nichtigkeit gelangten immer dann an die Oberfläche des Bewusstseins, wenn er genötigt war, diese Perspektive anzuerkennen und sich selbst jenseits der Tür zu sehen (eine Tür, die dann nicht zufällig in der Titelillustration der VERWANDLUNG erscheinen wird). Und dieser neurotische Mechanismus war eine Klaviatur, auf der Kafkas Familie zweifellos, wenn auch nicht völlig bewusst, zu spielen verstand.
Wenn also im März und im Oktober 1912 sich Kafka die gleichen Todesbilder aufdrängten, so deshalb, weil für ihn die beiden vorangegangenen Situationen – die im Chor klagenden Schwestern und Eltern – keine bloßen Auslöser waren, sondern Urszenen, die den Kern seiner Identität berührten. Neu war nun freilich, dass mit der Existenz eines work in progress die Spannung zwischen innerem und äußerem Leben um eine weitere Drehung zugenommen hatte. Dass gerade damit eine Handhabe gegeben war, einen entschlossenen Mitstreiter zu mobilisieren, war Kafkas Glück und Brods Pech. Denn dieser trat ja seine Advokatur unter ganz falschen Voraussetzungen an, ahnte er doch noch immer nicht (und er konnte es angesichts des besessen arbeitenden Freundes auch nicht ahnen), wie vergänglich das Selbstbewusstsein war, das Kafka aus literarischer Arbeit zu gewinnen vermochte. Ein einziges böses Wort der Schwester konnte es zum Einsturz bringen. Insofern tat zwar Brod das pragmatisch Richtige, aber er tat es vor dem Hintergrund einer unlösbaren Aufgabe.
Denn was für eine Art von ›Lösung‹ war dies eigentlich, die Brod für Kafka erwirken konnte? Die Zusage Julie Kafkas, ihren Mann ein wenig zu belügen, womit sie sich selbst, ihren Sohn und womöglich auch noch Ottla zu einer wochenlangen Verstellung nötigte – das war eine Lösung, mit der, sollte man meinen, allenfalls ein Kind zufrieden {140} zu stellen war, das glücklich ist, für den Augenblick der Faust des Vaters entronnen zu sein. Sollte es Kafka entgangen sein, wie beschämend es im Grunde war, dass er zweier Vermittler bedurfte, um dem Vater standzuhalten? Undenkbar. Spätestens, als er von der Intervention des Freundes erfuhr – die der schwatzhafte Brod nicht lange geheim zu halten vermochte –, muss ihm schmerzhaft bewusst geworden sein, dass er die momentane Entlastung keineswegs einem beherzten Gegenhieb oder auch nur seiner Hartnäckigkeit verdankte, sondern der Wiederholung eines uralten Familienrituals: Wieder einmal trat die Mutter als Moderatorin auf, verhinderte das Schrecklichste und verlängerte dadurch den Schrecken. Und dennoch genügte Kafka die mit neuen Schuldgefühlen erkaufte Atempause, um sich am Abend wiederum vor das Manuskript des VERSCHOLLENEN zu setzen, keine vierundzwanzig Stunden nachdem er nur noch einen Schritt davon entfernt war, sich gänzlich und endgültig ›fallen zu lassen‹. »Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht«, hatte er an Felice geschrieben. Das war die Wahrheit. Wir müssen uns Kafka in jenem Augenblick, da er erneut in die Geschichte des unschuldig verstoßenen Karl versank, als selbstvergessen glücklichen Menschen vorstellen. Niemand behelligte ihn mehr, die Mutter hatte ganze Arbeit geleistet. Im Nebenzimmer die üblichen Gespräche über die Verwandtschaft, das Geschäft, die üblichen
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