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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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nicht ganz so {148} witzig gemeint ist, wie seine raffiniert-hilflose Diktion glauben macht – und doch verspricht sie ihm schon am 3. oder 4.November, von nun an täglich zu schreiben. Es ist, als sei eine papierne Lawine losgetreten.
    Kafka ist glücklich, und er hält Schritt – obgleich er anfangs Mühe hat, die im nächtlichen Dämmer phantasierten uferlosen Briefe von den tatsächlich geschriebenen zu unterscheiden. Doch nicht nach einem Briefquiz hatte es ihn verlangt, nicht nach Fragen und Antworten, die wie am Schnürchen aufgereiht waren – solche Briefe hatten beide den ganzen Tag über zu diktieren, und die Frage ›wer ist dran mit Schreiben?‹ ist folgerichtig weder ihm noch Felice je in den Sinn gekommen. Kafka wollte einen Energiestrom, der ihn an ein Lebendiges ankoppelte, genauer: einen Energie kreislauf, und seine beständige Sorge um verlorene oder nicht ausgehändigte Briefe, die er vom ersten Tag an durch Einschreib- und Expressporto zu beruhigen suchte, gründete in der Angst, das gesteigerte Selbstgefühl, das jene Energie ihm vermittelte, wieder zusammenbrechen zu sehen. Was in Felices Leben wie ein immer dringlicheres, in immer kürzeren Intervallen vernehmbares Pochen drang, war von seiner Seite ein völlig entgrenztes, durch keine soziale Anforderung, ja nicht einmal durch Schlaf wirklich unterbrochenes Sprechen. Nicht anders als bei der nächtlichen Arbeit am VERSCHOLLENEN wollte Kafka auch in seinen Briefen Kontinuität um jeden Preis, und seine beständige Bitte, den Funken des Vertrauens – und später der Liebe – auch über gänzlich leere, das heißt brieflose Tage hinwegspringen zu lassen, ist verständlich nur als Ausdruck seiner Furcht, dieser Funke könne verlöschen, sobald nur einer von beiden den Blick abwende.
    An die Tatsache, dass Briefe auch kommunikative Anforderungen stellen und nach konkreten Antworten verlangen, musste Kafka zumindest in den ersten Wochen immer wieder erinnert werden. Schon in ihren ersten Briefen hatte Felice ihn darum gebeten, seine »Lebensweise« und vor allem seine Bürotätigkeit zu schildern, die sie sich als interessant und verantwortungsvoll vorstellte. Doch Kafka überhörte diese Stimme, und als er endlich auf sein Beamtendasein zu sprechen kam, spielte er eine groteske Büropantomime à la Dostojewski:
»Wenn ein Brief endlich da ist, nachdem die Türe meines Zimmers tausendmal aufgegangen ist, um statt des Dieners mit dem Brief eine Unzahl von Leuten einzulassen, die mit einem in dieser Hinsicht mich quälenden ruhigen {149} Gesichtsausdruck sich hier am richtigen Platze fühlen, wo doch nur der Diener mit dem Brief und kein anderer ein Anrecht hat, aufzutreten – wenn dann also dieser Brief da ist, dann glaube ich ein Weilchen lang, dass ich jetzt ruhig sein kann, dass ich mich an ihm sättigen werde und dass der Tag gut vorübergehen wird. Aber dann habe ich ihn gelesen, es ist mehr darin, als ich je erfahren zu können verlangen darf, Sie haben für den Brief Ihren Abend verwendet und es bleibt vielleicht kaum Zeit mehr zu dem Spaziergang durch die Leipziger Strasse, ich lese den Brief einmal, lege ihn weg und lese ihn wieder, nehme einen Akt in die Hand und lese doch eigentlich nur Ihren Brief, stehe beim Schreibmaschinisten, dem ich diktieren soll, und wieder geht mir Ihr Brief langsam durch die Hand und ich habe ihn kaum hervorgezogen, Leute fragen mich um irgendetwas und ich weiss ganz genau, dass ich jetzt nicht an Ihren Brief denken sollte, aber es ist auch das einzige, was mir einfällt – aber nach alledem bin ich hungrig wie früher, unruhig wie früher und schon wieder fängt die Tür sich lustig zu bewegen an, wie wenn der Diener mit dem Brief schon wieder kommen sollte. Das ist die ›kleine Freude‹, die mir Ihrem Ausdrucke nach Ihre Briefe machen.« [113]  
    Man spürt hier vor allem Kafkas Freude an der szenischen und gestischen Gestalt, die den Eindruck einer geistesabwesenden Gier so weit mildert, dass Felices Befremden wohl doch noch in amüsierte Faszination überging. Zumal Kafka nun endlich zu erwachen und sich zu erinnern schien, wozu Briefe eigentlich da sind:
»Aber ich antworte gar nicht und frage kaum und alles nur deshalb, weil die Freude Ihnen zu schreiben, ohne dass ich mir dessen gleich bewusst werde, alle Briefe an Sie gleich für das Endlose anlegt und da muss natürlich auf den ersten Bogen nichts eigentliches gesagt werden.«
    Ein treffliches Argument. Glücklicherweise besann sich Kafka

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