Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Geräusche des Kartenspiels. Der Mauteinnehmer an der Cechbrücke, den Kafka von seinem Fenster beobachten konnte, tat ruhig seinen Dienst. Der Nebel war noch dichter geworden.
An diesem selben Dienstag, den 8.Oktober 1912, feierte Nikolaus I., der König des kleinen Bergstaats Montenegro, seinen 71. Geburtstag. Der Tag wurde festlich begangen mit einer um die Mittagszeit überreichten Kriegserklärung an das Osmanische Reich. Eine unbedeutende Turbulenz am Rande des k. u. k. Imperiums. »Nicht so tragisch«, verlautete auch aus Berliner diplomatischen Kreisen. Später werden die Geschichtsbücher vom Beginn des ›Ersten Balkankriegs‹ sprechen. Leider erhielten die Redaktionen der Prager Blätter die Meldung nicht mehr rechtzeitig zur Abendausgabe.
{141} Das Mädchen, die Dame und die Frau
Hätte ich nicht geredet, um Gottes willen, wem hätte ich zuhören müssen?
Botho Strauß, DAS PARTIKULAR
»Wie wenig nützt die Begegnung im Brief, es ist wie ein Plätschern am Ufer zweier durch einen See getrennter.« Nicht an Felice Bauer, sondern – als 24-Jähriger – an Hedwig Weiler hat Kafka diesen verliebten Satz gerichtet, noch ganz unter dem Einfluss eines sinnlichen Sommers auf dem Land. Ein trauriges, doch allzu süß-poetisches Bild, das die Schrecken unaufhebbarer Fremdheit nicht enthüllt, sondern bloß illuminiert. Vielleicht darum musste er das Moment von Wahrheit, welches das Bild dennoch enthält, ein zweites Mal erfahren, nun aber in wahrhaft katastrophischer Weise.
Fünfzehn Jahre später, lange nach der Trennung von Felice, ist die Erkenntnis ausgekühlt, versteinert: »Wie kam man nur auf den Gedanken, dass Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft.« So Kafka an Milena Jesenská im März 1922. Das trockene Resümee eines fünf Jahre währenden, bald verzweifelten, bald glücklichen, in letzter Konsequenz aber selbstzerstörerischen Versuchs, dem Medium Brief die Intimität einer lebendigen Beziehung abzupressen – und mehr als das, mehr als die gewöhnliche Intimität, die sich doch meist als Folge erotischer Nähe einstellt und darin auch ihre Schranke hat, vielmehr absolutes Verstehen, Vertrauen ohne den Schatten eines Vorbehalts, Exklusivität, Symbiose.
Kafka wollte das Unmögliche, und es ist nur schwer vorstellbar, dass er dies nicht immer gewusst hat. Als habe er sich im September 1912 entschlossen, mit nichts als den eigenen Händen einen unterirdischen Gang von Prag nach Berlin zu graben. Während alle anderen {142} oben im hellen Tageslicht reisten, wollte er eine verborgene, nur ihm und Felice zugehörige, gleichsam von Zimmer zu Zimmer führende Verbindung. Das ging nicht nur über seine Kräfte, sondern, tatsächlich, »über Menschenkraft«. Er wurde müde, musste seinen Tunnel aufgeben, ein lächerliches Fragment angesichts der unermesslichen, noch zu bewältigenden Strecke. Der Schacht stürzte endlich ein, nichts blieb davon übrig. Doch was er in fünfjähriger ›Beziehungsarbeit‹ zutage gefördert hatte, blieb liegen, wurde konserviert, ausgestellt, veröffentlicht. Eine Halde von Zeichen, insgesamt 511 Briefe, Postkarten und Brieffragmente, die zusammen nahezu 700 Druckseiten füllen.
Kafkas BRIEFE AN FELICE gehören zu den ungeheuerlichsten Dokumenten der Weltliteratur; weder in ihrer sprachlichen Dichte noch in ihrer selbstreflexiven Intensität sind sie mit irgendeiner erhaltenen Korrespondenz vergleichbar. Ihre exhibitionistischen Züge haben nichts gemein mit dem schon zu Kafkas Lebzeiten grassierenden Geständniszwang einer zunehmend psychologisierten Gesellschaft und noch viel weniger mit den heutigen, scheinbar radikaleren, in Wahrheit medial dirigierten Selbstentblößungen. Umso erschütternder ist die Lektüre, und nicht wenige Leser verspüren eine schmerzliche Scham, ein Widerstreben, das die Frage unabweisbar macht, ob die Veröffentlichung dieser Dokumente überhaupt zu rechtfertigen ist. Der Germanist Erich Heller, einer der Herausgeber der Briefe, hegte daran Zweifel noch in seinem letzten Lebensjahr. Demgegenüber hat Canetti sich und den Leser mit dem Gedanken trösten wollen, dass ja auch Kafka, »dessen oberste Eigenschaft Ehrfurcht war«, sich nicht scheute, die Briefe Kleists, Flauberts und Hebbels zu lesen. [109] Ein zweischneidiges Argument, das letztlich auf die moralisch ungeschlachte Frage hinausläuft, ob
Weitere Kostenlose Bücher