Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
ist wahr, dass dieser Anteil wiederum fast ausschließlich durch das Medium von Kafkas Sprache zu uns gelangt. Doch er selbst ist es, der schließlich über dieses Dilemma hinweghilft. Denn seine Gier nach lebendigen Details aus Felices Alltag, die er schon früh mit seiner Bitte um ein »Tagebuch« anmeldete, blieb unersättlich über Monate; um ihretwillen inhalierte er förmlich die Briefe, die ihm niemals präzis genug, niemals bildhaft genug und darum auch niemals wirklich abgeschlossen erschienen. (Ein Videofilm, der das Leben Felices im Verhältnis eins zu eins abbildet und darüber hinaus das beliebig lange Betrachten einzelner Augenblicke erlaubt: Das erst wäre die Erfüllung gewesen.) Gerade seine ständigen Bitten um weitere Einzelheiten und genauere Erklärungen nötigten ihn jedoch, sich auf die bereits eingesammelten Mosaiksteinchen aus Felices Leben in vielfacher Weise zu beziehen und sie dadurch zu überliefern – zum Beispiel durch sinngemäßes oder wörtliches Zitieren ihrer Briefe, auf die er sich mit einem Ernst und mit einer Genauigkeit beruft, als komme noch den flüchtigsten, mit Bleistift hingeworfenen Grüßen die Dignität amtlicher Entscheidungen zu. (»Halte Dich doch nicht an jedes Wort!«, wird sie ihn einmal in Berlin anfahren.) Auf diesem Umweg haben sich zahllose empirische Splitter in dem gewaltigen Briefwerk abgelagert, die sich durch eine strikt auf ›Berlin‹ ausgerichtete Lektüre herauslösen und zusammenfügen lassen. Das ergibt kaum mehr als ein grob gerastertes Porträt; doch es treten menschliche, weibliche Züge hervor, die unverwechselbar sind und die das Gespenst ›Felice Bauer‹, das bisher durch die Literatur geisterte, vergessen lassen.
Wie schnell, ja geradezu abrupt sich die wechselseitigen Sehnsüchte und Projektionen ineinander verhakten, ist unter den Überraschungen, die diese Korrespondenz bietet, vielleicht die am schwersten zu {147} deutende. Drei Wochen lang schwieg Felice Bauer, ehe sie sich (nach einer dezenten Ermahnung von Seiten der Friedmanns) entschloss, dem Drängen des Doktor Kafka nachzugeben und dem bisher flüchtigen Kontakt einen Ort in ihrem Leben zuzuweisen. Ein bedeutsamer Schritt. Denn bereits als Form der Verständigung hatten Briefe zwischen Mann und Frau zu jener Zeit ein hohes Maß an Verbindlichkeit. Ehen wurden häufig über Korrespondenzen angebahnt, und gegenüber dem Telefon galt der Brief noch immer als das adäquate Medium, wenn es um substanzielle persönliche Beziehungen ging. Felice war keineswegs so naiv, sich von Kafkas spielerischer Einleitung täuschen zu lassen: Briefe einer Frau im heiratsfähigen Alter beinhalteten das Versprechen von Nähe, ganz gleich, was sonst darin stand, und wenn Kafka sich des Postboten bediente, um eine Frau zu gewinnen (niemals vergaß er, durch wie viele Hände seine Briefe gingen), so entsprach das zunächst der sozial anerkannten Funktion, die solche ›Brieffreundschaften‹ damals noch hatten.
Umso verblüffender, wie rasch Felice Bauer jene Verbindlichkeit nicht nur zuließ, sondern geradezu forcierte. In ihrem ersten ausführlichen Brief an Kafka, der am 23.Oktober bei ihm eintrifft, entwirft sie bereits ein Bild ihres Alltags, das ihm vielfache Anknüpfungspunkte bietet: die Theaterbesuche; die Bücher, Süßigkeiten und Blumen, die sie von Kollegen geschenkt bekommt; die vielen Zeitschriften, die sie liest. Und – man staune – sie legt diesem Brief eine Blume bei.
Nur vier Tage später – mittlerweile hat sie erfahren, dass Kafka ihr DAS URTEIL gewidmet hat – lässt sie sich zu einer ersten Vertraulichkeit hinreißen: Sie gesteht ihm, dass sein Freund Max ihr damals in Prag doch recht auf die Nerven gegangen ist. Falsche Ehrfurcht vor ihrem berühmten Verwandten hat sie nicht, das gefällt Kafka. Schon am folgenden Tag öffnet sie die Tür ein weiteres Stück und versichert ihm, er dürfe ihr schreiben, wann und sooft er will. Wiederum zwei Tage später fragt sie, ob es ihm nicht unangenehm sei, jeden Tag einen Brief ins Büro zu bekommen – eine durchaus berechtigte Sorge, denn nun hat sie innerhalb einer einzigen Woche mindestens fünfmal, wahrscheinlich sogar sechsmal geschrieben und somit mehr Briefe abgeschickt als empfangen. Sie verwöhnt Kafka, schon jetzt irritiert es ihn, einmal vergeblich auf einen Brief warten zu müssen. Sie spürt zweifellos, dass sein Drängen auf einen wie immer begrenzten (»fünf Zeilen«), aber doch niemals abreißenden Briefstrom
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