Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Geringsten dieser notwendig verzerrten Lektüre. Wahr ist, dass Felice, solange sie für Kafka ein ›unbeschriebenes Blatt‹ war, zum Objekt heftiger und hitziger Phantasien wurde. Das ist ein alltägliches Phänomen, sobald Menschen mit starker Einbildungskraft Liebesbeziehungen eingehen. Man träumt, wo man nicht weiß. Die Frage ist allein, ob man, bei zunehmender Vertrautheit, lieber weiterträumt oder dann doch wissen will, wen man begehrt. Kein Zweifel, dass zahlreiche Kafka-Exegeten hier in eine hermeneutische Falle gelaufen sind: Weil für sie die Berliner Adressatin eine leere Projektionsfläche bleibt (so leer, dass der Einband von Canettis Monographie eine Felice ohne Gesicht zeigt), nehmen sie in dem halben Briefwechsel, der erhalten blieb, ausschließlich das Moment der Projektion wahr und übersehen, dass Kafka selbst diesem Mechanismus entgegengearbeitet hat, und keineswegs erfolglos.
Kafka hat im Verlauf einer fünfjährigen Freundschaft sehr viel über Felice Bauer erfahren – teils aufgrund ihres Entgegenkommens, teils durch beharrliches Nachfragen. Der heutige Leser weiß über sie fast nichts. Es ist sonderbar, wie spärlich die bisherigen Versuche ausgefallen sind, diese Lücke wenigstens teilweise zu schließen. Offenbar waren die schemenhaften Umrisse der Berliner Angestellten nicht geeignet, {145} intellektuelle Neugier zu wecken. Das wird besonders deutlich, wenn man die seit Ende der achtziger Jahre erfolgreich intensivierten Bemühungen dagegenhält, ein realistisches Bild von Milena Jesenská zu gewinnen. Milena gilt als die weitaus ›interessantere‹ Figur – zum einen, weil sie über beträchtliche sprachliche Ausdruckskraft verfügte, vor allem aber, weil sich ihr Leben in bewusster Distanz zu jeglicher Spielart bürgerlicher Normalität vollzog. Als einzige Person in Kafkas gesamtem biographischem Umfeld ist sie dessen ungeheurem Schatten entronnen, und nachdem man sie einige Jahrzehnte lang nur als ›Kafkas Geliebte‹ kannte, hat sie im kulturellen Gedächtnis ihr Eigenleben mittlerweile zurückgewonnen.
Dass sich die Aufmerksamkeit auf zwei so völlig konträre Frauenfiguren sehr ungleich verteilen musste, ist nur zu begreiflich: Die Ausnahme ist immer das Erregende, und Menschen, die sich eindrucksvoll artikulieren, wecken das Einfühlungsvermögen und das Verlangen nach Identifikation. Ein Erkenntnisinteresse, das sich allein von derartigen Impulsen leiten lässt, muss jedoch versagen, wo es um die Abgründe des Gewöhnlichen geht. Der ethnologisch verfremdete Blick, der auf scheinbar vertraute soziale Zusammenhänge gerichtet wird, vermag Schichten freizulegen, die der puren Identifikation verschlossen bleiben. Karl Kraus hat in der Fackel Heiratsannoncen von trostloser Sprachlosigkeit abgedruckt, deren Erkenntniswert sich nur erschließt, wenn man sie aus größtmöglicher Distanz, das heißt als Symptome liest. Dass dieser Blick zwangsläufig mitleidlos sei, ist ein Vorurteil. Kafka selbst weinte einmal über dem Prozessbericht einer Kindesmörderin und stellte im selben Augenblick fest: »Ganz schematische Geschichte.« [112]
Dass die Figur Felice Bauer weit besser als Milena geeignet ist, die Wonnen bürgerlicher Normalität zu illustrieren, ist unbestreitbar. Doch es war ihr nicht vergönnt, diese Normalität zu leben, ohne einen beträchtlichen Preis dafür zu erlegen. In ihrer Existenz durchkreuzten einander bürgerlicher Familiensinn, die Ansprüche eines fast schon anachronistischen Bildungskanons, weibliches Rollenspiel und der zunehmende Sog der Abstraktion eines arbeitsteilig organisierten Büroalltags. Der psychische Kraftakt, dessen es bedurfte, um in einem solchen sozialen Minenfeld fröhlich überleben zu können, bleibt selbst durch den Filter von Kafkas Idealisierung spürbar. Insofern bietet Felice Bauer das Bild einer vielleicht symptomatischen, aber alles {146} andere als ungebrochenen weiblichen Biographie, die sich – würde man sie zum Gegenstand einer sozialhistorischen Fallstudie machen – wahrscheinlich als hochsignifikant und ›interessant‹ erweisen würde.
Der Biograph, der sich solchem Realismus verschlösse, wäre schlecht beraten. Denn der tatsächliche Anteil an Projektionen, Selbsttäuschungen und Verdrängungen, der es Kafka ermöglichte, fünf Jahre lang an einem illusorischen Lebensplan festzuhalten, ist schlechterdings nicht abzuschätzen, solange der ›Realanteil‹ dieser Liebesgeschichte völlig im Dunkeln bleibt. Es
Weitere Kostenlose Bücher