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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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rechtzeitig darauf, dass ein unendlicher Anlauf nicht zu einem unendlich weiten Sprung führt und dass die Quantität noch so vieler ›uneigentlicher‹ Worte niemals in die Qualität einer einzigen ›eigentlichen‹ Silbe umschlagen würde. Er musste sich endlich vorstellen, musste hervortreten aus der Deckung eines mäandernden Schreibens, das wirkliche Nähe nicht zuließ, solange es sich aus bloßer Imagination nährte.
    Doch die Felice, die ihm nun entgegentrat, wollte mit den Erinnerungen an den Abend bei Brod und mit dem Gespinst von Phantasien, das sie umhüllte, nicht recht zusammenstimmen. Das genussvolle Rekapitulieren der ersten Begegnung, das schon bald nach Felices Antwort zu einem Brief im Format einer Abhandlung ausuferte, diente {150} ihm keinesfalls nur – wie so vielen Paaren – der lebensgeschichtlichen Verankerung eines noch unsicheren Wir. Deutlich vernehmbar klang darin auch eine Frage an: ›Sind Sie es noch?‹ Kafka stand das Bild einer lebenstüchtigen, umsichtigen, gelassenen, wahrhaft souveränen jungen Frau vor Augen, ein Bild, das an tiefste Wünsche nach Geborgenheit rührte. Was er aus Berlin zu hören bekam, war die Wirklichkeit einer zwar unbegreiflich leistungsfähigen, aber doch von deutlichen Symptomen der Überforderung geplagten Angestellten.
    Felice Bauer arbeitete seit August 1909 bei der Carl Lindström A. G., einer der bedeutendsten deutschen Produktionsstätten für Grammophone und bürotechnische Geräte. Zunächst als Stenotypistin eingestellt, wurde sie später zuständig für den Vertrieb von ›Parlographen‹, der damals technisch avanciertesten Diktiergeräte. [114]   Das war eine Tätigkeit, die ihrer sozialen Extrovertiertheit und ›Geselligkeit‹ sehr entgegenkam, die ihr aber auch ermüdende Auftritte auf Verkaufsmessen, Repräsentationspflichten und täglich Dutzende von Gesprächen und Diktaten auferlegte. Gewöhnlich endete ihr Arbeitstag erst um 19 Uhr; bisweilen aber blieb sie noch lange allein im Büro, bis die Mutter rigoros zum Telefonhörer griff und sie nach Hause rief (die Bauers waren up to date und hatten seit kurzem einen eigenen Anschluss). Dennoch hatte sie noch die Kraft zu Nebenjobs, Schreibarbeiten, die sie stundenweise erledigte und bei denen sie die Geschwindigkeit ihrer Finger geltend machen konnte (freilich nur im Zwei -Finger-System, dem damals noch geduldeten ›Tippen‹). Zweimal wöchentlich nahm sie an einer Turngruppe teil, am Wochenende erledigte sie Handarbeiten, zu denen die Mutter sie anhielt, daneben kümmerte sie sich intensiv um die Geschwister. Zum Lesen und Briefeschreiben kam sie überhaupt nur im Bett – den Schreibtisch in ihrem Zimmer mied sie –, und wenn sie Entspannung suchte, blieben kurze Spaziergänge oder gelegentliche Theaterbesuche. Ein Leben, das psychosomatische Reaktionen geradezu herausforderte: Mit Schrecken las Kafka von Felices ständigen Kopfschmerzen, die sie mit Pyramidon und Aspirin bekämpfte, von Übermüdung und schmerzenden Augen, von Albträumen und Weinkrämpfen, die sie scheinbar grundlos überfielen.
    Das war nicht die »grosse Ruhe«, von der er geträumt hatte. Und jetzt erfuhr er überdies – es erschien ihm so unglaublich, dass er es nochmals bestätigt sehen wollte –, dass sie Angst vorm dunklen Treppenhaus {151} hatte und abends vom Haustor bis zur Wohnungstür begleitet werden wollte. »Sie, die so ruhig und zuversichtlich scheinen«, schrieb er kopfschüttelnd. Und hatte sie nicht an jenem Abend bei Brod erzählt, wie unangenehm es ihr sei, einsam im Hotel zu wohnen? Kafka verstand nicht – oder verstand vielleicht nur allzu gut –, wie er ausgerechnet dieses Detail hatte vergessen können. Das war nicht mehr die starke Felice, das war ein verängstigtes Mädchen, dem man die Tablettenschachtel wegnehmen und das man an der Hand fassen musste.
    Projektionen, gewiss. Doch lässt sich in Kafkas Briefen sehr genau verfolgen, dass Imagination und Wirklichkeit auf weitaus raffiniertere Weise ineinander griffen, als das psychologische Klischee der ›leeren Leinwand‹ suggeriert. Was konnte er tun, da die Berliner Realität sich so rasch und so nachhaltig Geltung verschaffte? Das liebgewonnene Bild von Felice als einer in sich ruhenden Kraftquelle aufgeben? Dieses Bild war ja keine bloße fixe Idee; mit wahrhaft furchterregender Entschlossenheit ertrug sie mehr als er zu seinen schlimmsten Zeiten in der Assicurazioni Generali. Über die profane Kehrseite dieses Lebens

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