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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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genau wie eine Woche zuvor, als Elli ihr Kind geboren hatte und die in der Wohnung ausbrechende Begeisterung sein Zimmer förmlich aussparte, als handele es sich um eine Abstellkammer, als gehöre er nicht mehr dazu. Jetzt frühstückte die Familie ohne ihn. Nein, ehe nicht endlich ein Brief kam, würde er das Bett nicht verlassen, nun mussten eben Ottla und die Haushälterin abwechselnd hinaus auf die Treppe und Ausschau nach dem Briefträger halten. Es war unmöglich, sich in diesem Zustand zu zeigen.
    Was war es, was Kafka in dieser finsteren Stunde aufging und ihn sogleich »innerlichst bedrängte«, wie er noch am Abend an Felice schrieb? Das Bild eines Käfer-Ich in einem Menschenbett? Auch das, gewiss. Aber dieses Insekt erschien ihm nicht als überraschende Vision, sondern meldete sich als Erinnerung an eine flüchtige, bizarre Idee; vor Jahren schon hatte er sie einmal beiläufig formuliert, in den niemals zu Ende geführten HOCHZEITSVORBEREITUNGEN AUF DEM LANDE, wo der widerstrebende Bräutigam davon träumt, seinen »angekleideten Körper« zur Hochzeit zu schicken und selbst reglos im Bett zu bleiben – genau so, wie er es als Kind bei »gefährlichen Geschäften« immer gemacht hatte:
»Ich habe wie ich im Bett liege die Gestalt eines grossen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers glaube ich. […] Eines Käfers grosse Gestalt, ja. Ich stellte es dann so an als handle es sich um einen Winterschlaf und ich presste meine Beinchen an meinen gebauchten Leib. Und ich lisple eine kleine Zahl Worte, das sind Anordnungen an meinen traurigen Körper, der knapp bei mir steht und gebeugt ist. Bald bin ich fertig, er verbeugt sich, er geht flüchtig und alles wird er aufs beste vollführen, während ich ruhe.«
    Das war eine List und die Käfergestalt zur Abwehr weiterer Forderungen des Lebens gar nicht schlecht geeignet. Ein Gedankenspiel, ein Scherz. Wie aber, wenn diese Gestalt sich als eine furchtbare Erkrankung erweisen würde, eine Entgleisung, die geradewegs aus dem Leben hinausführte? Bereits 1909, also drei Jahre nach den HOCHZEITSVORBEREITUNGEN, hatte ein anderer Autor, der Däne Johannes V. Jensen, mit diesem Gedanken experimentiert und in seiner Erzählung DER KONDIGNOG einen Menschen in ein scheußliches, urzeitliches Tier verwandelt – freilich unter dem Vorbehalt, dass es sich um einen inneren {214} Vorgang handeln könnte, ein vielleicht geträumtes oder halluziniertes Geschehen, vielleicht gar um einen Wahn. Kafka muss diesen Text gekannt haben, denn einige physische Details seines Käfers sind unmittelbares Erbe des »Kondignog«. Jensen aber hatte seinen Helden am Ende in die menschliche Gemeinschaft zurückgeführt und dafür einen durchaus märchenhaften Schluss in Kauf genommen, die Erlösung durch ein Mädchen – also genau das, woran Kafka im Augenblick ganz und gar nicht mehr glauben konnte.
    Was demnach Kafka an jenem Morgen bedrängte und überwältigte, war – so muss man vermuten – nicht die längst vertraute Vorstellung einer Tierverwandlung, sondern die Einsicht, dass die Tiermetapher, und insbesondere das Bild des nichtigen, niederen Tiers, mit dem er bisher nur gespielt hatte, eine Zentralmetapher seiner Existenz war. Im Werk Kafkas markiert DIE VERWANDLUNG den Beginn einer ganzen Serie von denkenden, sprechenden und leidenden Tieren, von gelehrten Hunden und gierigen Schakalen, psychotischen Maulwürfen, abgeklärten Affen und eingebildeten Mäusen – ein Topos, dessen Wurzeln offenbar bis ins tiefste innerpsychische Dunkel reichten und das zugleich so schmiegsam, vielgestaltig und vieldeutig war, dass es fast beliebige erzählerische Nuancierungen erlaubte.
    Verlockend war diese Metapher vor allem deshalb, weil der Blick des Tieres auf den Menschen ein Blick von außen ist – das einzig denkbare lebendige Außen in einer Welt ohne Transzendenz. Das Tier ist nicht »Partei«, wie Kafka dies später genannt hat, es ist der stumme Zeuge, es lebt neben dem Menschen, nicht mit ihm. Was die Menschen untereinander verhandeln, ist ihm gleichgültig. Das Nächste und Wichtigste ist ihm sein Körper, dessen Gestalt und Verwundbarkeit seine Existenz ganz und gar bestimmt. Und die ungeheuerliche Überlegenheit des Menschen spürt das Tier nur als Zwang und als Angst, ohne deren Quelle je zu begreifen.
    Seit langem schon hatte Kafkas Selbstbild begonnen, sich dieser imaginierten tierischen Position allmählich anzunähern. Die Junggesellen-Metapher genügte nicht mehr,

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