Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Verzweiflung des zur Stummheit und ewigen Entfernung verurteilten Tieres.«
Sollte Felice geglaubt haben, hier gehe es nur um Sexualangst (die ihr wahrscheinlich nicht fremd war), so wurde sie schon bald eines Besseren belehrt: »Oft – und im Innersten vielleicht ununterbrochen – zweifle ich daran, ein Mensch zu sein.« Und gleich darauf: »Winde ich mich nicht seit Monaten vor Dir wie etwas Giftiges?« Schließlich die Klimax im September 1913: »vielmehr liege ich ganz und gar auf dem Boden, wie ein Tier, dem man (auch ich nicht) weder durch Zureden noch durch Überzeugen beikommen kann«. [179]
Gewiss, solche in der Wiederholung zwanghaft wirkenden Selbstabwertungen lassen sich auf handfeste Enttäuschungen in Kafkas Leben zurückführen, vor allem auf die allmählich sich festfahrende Beziehung zu Felice, die er von Anbeginn als die Chance seines Lebens, ja als Angebot der Erlösung gedeutet und überbesetzt hatte. Andererseits {217} aber verdankt sich die zunehmende Radikalität im bildhaften Ausdruck ebenjenem höllischen Szenario, das Kafka am 17.November 1912 und in einer Reihe weiterer Nächte mit feinem Pinsel ausgemalt und am Ende DIE VERWANDLUNG genannt hat. In der zentralen Metapher vom »Ungeziefer« verdichtete sich, was Kafka erfahren hatte, und was er danach erfuhr, stand wiederum unter dem Schatten jener Metapher: ein klassisches Feedback zwischen Leben und Werk, das sich vielleicht bei keinem Autor deutscher Sprache so rein und eindrucksvoll darstellt wie bei Kafka. ›Autobiographisches Schreiben‹ heißt die Formel. Doch das ist offenbar nur die halbe Wahrheit. ›Literarisiertes Leben‹ heißt die weitaus seltener sichtbare Kehrseite, und erst beides zusammen ergibt die für Kafka so charakteristische, gewaltsame, erschreckende Resonanz zwischen Wirklichkeit und Fiktion.
Dass Kafkas Schreiben in einem sehr unmittelbaren Sinne ›autobiographisch‹ ist, hat die Forschung gerade an der VERWANDLUNG bis in die feinsten Verästelungen nachgewiesen. Und wenn Peter Demetz beklagt, die Rezeption der Werke Kafkas bewege sich mittlerweile in einer Größenordnung »ungefähr wie die Shell-AG« [180] , so liegt das nicht zuletzt an der geradezu aufreizenden Manier dieses Autors, Momente des eigenen Lebens in kaum verschlüsselter Form zu literarisieren. Die davon ausstrahlende Versuchung richtet sich unwiderstehlich auf den Spieltrieb des avancierten Lesers: Ihm bereitet es Lust, dass die Namen »Raban« und »Samsa« sich auf »Kafka« reimen, und noch Fortgeschrittenere hören in »Samsa« das Echo von »Sacher-Masoch«, dessen VENUS IM PELZ wiederum reflektiert wird von der auffallend häufig erwähnten »Dame im Pelz«, jener aus der Zeitung ausgeschnittenen Fotografie, die der Verwandelte als sein letztes Besitztum aus Menschentagen verteidigt. Je genauer man Kafkas Leben kennt, desto vielfältiger und unüberschaubarer wird dieses Gestrüpp von Querverweisen und Anspielungen, und immer schwerer fällt es, harmlose ›Tagesreste‹ von wirklich bedeutsamen, formbestimmenden Bausteinen zu unterscheiden. Wenn sich Kafka vor der eigenen Haustür an der Trage eines Fleischergesellen beinahe ein blaues Auge holt und sechs Wochen später ebendieser Geselle am Ende der VERWANDLUNG »in stolzer Haltung« die Treppe heraufkommt – ›bedeutet‹ das etwas? Wir wissen es nicht, aber wir dürfen nach Belieben darüber spekulieren, ob Kafka die Assoziation ›frisches Fleisch‹ nach dem Hinscheiden des {218} Abfallfressers Gregor absichtlich oder unbewusst geweckt hat. Ein Spiel, das völlig legitim ist, solange wir es nicht mit Interpretation verwechseln.
Etwas ganz anderes hingegen und zweifellos von zentraler Bedeutung ist die Tatsache, dass in der VERWANDLUNG nicht der Vater, sondern die Schwester das Todesurteil über Gregor spricht: »Wir müssen ihn loszuwerden suchen«, beschwört sie den Vater, und als sei dieses Diktum noch nicht eisig genug, verschiebt es Kafka sogleich durch eine winzige Korrektur ins ganz und gar Unmenschliche: »Wir müssen es loszuwerden suchen«. Dieses »es«, auf dem allein die Schwester besteht, während der Vater vorläufig noch beim »er« bleibt, ist eine jener für Kafka bezeichnenden, punktuellen, gleichsam innerhalb einzelner Silben sich abspielenden Katastrophen, die den Leser mit geringstem Aufwand in größtmögliche Bewegung versetzen. Ein Stilprinzip, das den jeweiligen Ort markiert, an dem das Entscheidende sich abspielt.
Kafka muss klar
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