Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
gewesen sein, dass jener unsägliche Streit um die Asbestfabrik, bei dem Ottla sich erstmals gegen ihn gestellt und ihn »verlassen« hatte, zu den tiefsten lebensgeschichtlichen Voraussetzungen der VERWANDLUNG gehörte. Denn was er damals erlebt hatte – ›damals‹, das heißt Anfang Oktober, vor nicht einmal sechs Wochen –, war eine bedrohliche Urszene gewesen, deren Ausgang offen geblieben war, eine Szene, die Brod gemeinsam mit der Mutter sofort erstickt hatte, ehe sie zu greifbaren Konsequenzen führen konnte, während sie in Kafkas Tagträumen immer weiter sich fortspann. Nicht das tatsächliche Verhalten Ottlas hat Kafka in der VERWANDLUNG porträtiert; vielmehr hat er jene abgebrochene Szene mit den Mitteln der Literatur zu Ende gespielt: vielleicht, um sie endlich loszuwerden, vielleicht, um sich und Ottla ein wenig zu quälen, sicherlich aber auch um der Erkenntnis willen, um ein wenig klare, frostige Luft einströmen zu lassen in die gehemmten, schwülen, von halbem Schweigen verhüllten Beziehungen innerhalb der eigenen Familie.
Inwieweit Kafka über sein autobiographisches Spiel noch völlige Kontrolle hatte und inwiefern es ihm dann dennoch entglitt, lässt sich anhand des Originalmanuskripts der VERWANDLUNG, das glücklicherweise erhalten blieb, sehr genau belegen. So gibt sich zum Beispiel »Gregor« schon durch seinen Namen als enger Verwandter »Georgs« zu erkennen, der Hauptfigur in Kafkas URTEIL. Das war gewiss Absicht. {219} Aber dann verwechselt Kafka diese Namen immer wieder, viermal wählt er zunächst den falschen und muss korrigieren, einmal lässt er ihn gar stehen. Und es kommt noch schlimmer: Karl, der »Verschollene«, den Kafka zugunsten der VERWANDLUNG für einige Zeit im Stich lassen musste, drängt sich nun ebenfalls in den Schreibprozess: Nicht weniger als sechsmal schreibt Kafka zunächst »Karl« anstelle von »Gregor«. Es ist offenkundig, dass er der Identifikation mit seinen Figuren nicht immer Herr wird, dass der psychische Abstand zu ihnen noch eben groß genug ist, um sie zu einem vorgegebenen Ziel zu lenken, aber nicht groß genug, um die unbewussten Beziehungen zwischen ihnen völlig zu unterdrücken. Man erlebt hier hautnah den Balanceakt ästhetischer Produktivität: Kafka gelingt es, sich so weit zu ›öffnen‹, dass unbewusstes oder vorbewusstes Material bis ins Licht des Bewusstseins aufsteigt, wo es dann organisiert und gefiltert wird. Je weiter aber die ›Öffnung‹, je mächtiger der Druck von ›unten‹, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass irreguläre Einsprengsel der Wachsamkeit des Schreibenden entgehen.
Eine weitere, verblüffende Korrektur im Manuskript zeigt, dass Kafka die autobiographische Verrätselung seiner Texte völlig bewusst und mit geradezu bürokratischer Sorgfalt betrieben hat. Es geht hier um jene drei unheimlichen, immerzu im Gleichschritt auftretenden Untermieter, denen die Samsas in finanzieller Zwangslage ein Zimmer abtreten. Als diese »Zimmerherren« endlich bemerken, dass im Nebenraum ein riesiges Ungeziefer haust, kündigen sie sogleich, und mit der Frechheit dessen, der im unbezweifelbaren Recht ist, fügt der Sprecher der drei noch hinzu: »Ich werde natürlich auch für die 17 Tage, die ich hier gewohnt habe, nicht das Geringste bezahlen … « 17 Tage? Eine ungewöhnliche, an dieser Stelle völlig unmotivierte Präzision, wie auch Kafka schon bei der ersten Durchsicht dieser Passage bemerkt haben muss. Dennoch tilgt er die überflüssige Zahl nicht, sondern ersetzt sie durch eine andere: »26«. Und erst im Typoskript der VERWANDLUNG, frühestens nach einem halben Jahr, entschließt er sich, ganz auf diese Angaben zu verzichten: » … die Tage, die ich hier gewohnt habe … «
Ein mysteriöser Vorgang. 17 … 26 … was mag sich der sonst so zahlenscheue Kafka dabei gedacht haben? Die Lösung liegt ganz nahe, aber sie ist nicht im Text verborgen, sondern in der Wirklichkeit. Denn rechnet man von dem Tag, an dem Kafka diesen Satz schrieb, 17 {220} Tage zurück – und das Datum lässt sich anhand seiner Äußerungen gegenüber Felice genau bestimmen –, so gelangt man wiederum zum 17.November 1912, zu jenem Tag, an dem Kafka mit der Niederschrift der VERWANDLUNG begann. Seit diesem Datum, tatsächlich , bewohnten die imaginierten Zimmerherren eine imaginierte Wohnung in Kafkas wirklichem Bewusstsein. Spätestens seit diesem Datum, um genau zu sein, vielleicht aber schon länger, denn das Unheil, das sich in der
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