Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
verlangte nach Radikalisierung. Denn die wunderlichen, hypochondrischen Züge, die der einsame Junggeselle zwangsläufig annimmt, verblassten hinter der radikalen Fremdheit, die Kafka jetzt, da die Begegnung mit Felice ihn zu einer Definition seines Lebens zwang, wie ein »Kälteschauer« beschlich – wie jene Kälteempfindung, die Gregor Samsa als eine der ersten Äußerungen {215} seines neuen Körpers kennen lernt. Diese Kälte rührte nicht von der Einsamkeit; sie rührte vom Anderssein . »Ich lebe«, schrieb Kafka ein Jahr später an Carl Bauer, »in meiner Familie, unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder.« Und das war nun wahrer als jemals zuvor. Denn beide Fluchtlinien – die äußere, die nach Berlin hätte führen sollen, und die innere durch die Tagträume der literarischen Fiktion – wiesen ihn aus der Familie hinaus .
Man muss sich davor hüten, diesen Vorstellungen und Gedankenspielen Kafkas so etwas wie logische Folgerichtigkeit abzwingen zu wollen. Es handelt sich um Assoziationen, Bilder und innere Szenen, die sich ihm als immer neue, fließende, zunächst nur locker miteinander verwandte assoziative Zusammenhänge aufdrängten – so lange, bis er ein überzeugendes Bild oder eine Metapher entdeckte, die jene Zusammenhänge möglichst vollständig in sich aufnahm und sprachlich vermittelbar machte. Fremdheit, Nichtigkeit, Ausgestoßensein und Stummheit sind Vorstellungen, die Kafka im Bild des Ungeziefers so einleuchtend verdichtet hat, dass sie sich im Kopf des Lesers zu heftiger, wechselseitiger Resonanz anregen. Alle diese Vorstellungen spielten jedoch in Kafkas innerer Welt längst eine bedeutsame Rolle, bevor er den entscheidenden literarischen Einfall hatte, nur mangelte es ihnen an assoziativer und bildlicher Einheit, die jener Einfall ihnen dann nachträglich verschaffte.
So schrieb Kafka im November 1912 in seinem großen Vorstellungsbrief an Felice: »Mein Leben besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu Schreiben und meist aus misslungenen. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden.« Wer DIE VERWANDLUNG kennt, wird das Bild wiedererkennen: »›Tot?‹ sagte Frau Samsa und sah fragend zur Bedienerin auf […] ›Das will ich meinen‹, sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein großes Stück seitwärts.« [178] Das schrieb Kafka etwa einen Monat nach jenem Brief, in dem er sich gegenüber der begehrten Frau erstmals zur Passion der Literatur bekannte. Er hatte also an einem Bild festgehalten, das ihm einleuchtend schien. Und es schien ihm so einleuchtend, dass er daran festhielt scheinbar ohne Rücksicht auf die Logik der Sache. Denn Kafkas eigene Familie, vor allem die Eltern, hätten ihn doch keinesfalls »hinausgekehrt«, sondern es im Gegenteil begrüßt , wenn er {216} das Schreiben eingestellt hätte; und die demonstrativ verächtliche Haltung des Vaters galt doch keineswegs dem Scheitern seiner literarischen Ambitionen, sondern dem Schreiben selber. Kafka spricht also offenkundig von grundverschiedenen Dingen – dem Verfall der Selbstachtung (»ich«) und der Demütigung durch die Familie (»Gregor«) – und gebraucht dennoch für beides dasselbe Bild.
Auf diesem Vorrang des ›richtigen‹ Bildes vor einer realistischen Abbildung der Verhältnisse beharrte Kafka noch viel entschiedener, nachdem er DIE VERWANDLUNG vollendet hatte. Denn für die spielerischen Selbstverkleinerungen und für die Klagen der Entfremdung, die sich in seinen Äußerungen schon seit jeher eingestreut fanden, hatte er jetzt ein schlagkräftiges Bild gefunden, das jene diffusen Vorstellungen mit einer schockierenden, körperhaften Dringlichkeit ausstattete: Ich, das elende Tier aus dem finsteren Raum nebenan. Felice Bauer, der Kafka DIE VERWANDLUNG wohlweislich erst sehr viel später zu lesen gab und die daher nicht wissen konnte, dass er sich auf eine ausgearbeitete Fiktion bezog, muss äußerst befremdet gewesen sein über die Hartnäckigkeit, mit der sich Kafka aus der Menschengemeinschaft hinausphantasierte:
»Meine eigentliche Furcht – es kann wohl nichts schlimmeres gesagt und angehört werden – ist die, dass ich Dich niemals werde besitzen können. Dass ich im günstigsten Falle darauf beschränkt bleiben werde, wie ein besinnungslos treuer Hund Deine zerstreut mir überlassene Hand zu küssen, was kein Liebeszeichen sein wird, sondern nur ein Zeichen der
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