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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Allerheiligste vorzulassen. Der Skandal um die von der Mutter aufgestöberten Briefe ging ihn unmittelbar an, {246} davon schrieb sie ihm unter Tränen. Dass es jedoch auch zwischen den Eltern schmerzhafte Auftritte und Konflikte gab, in die sie immer wieder hineingezogen wurde, deutete sie ihm erst an, als der Druck schon unerträglich wurde – ohne indessen die Vorgeschichte von Flucht und Heimkehr des Vaters preiszugeben. Auch an ihrem Arbeitsplatz ging es nicht ohne Demütigungen ab, und wiederum setzte sie Kafka erst nach langem Zögern ins Bild: Offenbar hatte sich ein Vertreter der Firma Lindström rabiat darüber beschwert, das von Fräulein Bauer verfasste Werbematerial sei nicht zu gebrauchen, und es kam so weit, dass der Direktor Heinemann seine vor Zorn weinende Direktrice beruhigen musste. Schließlich erfuhr Kafka noch vor Weihnachten, in der Familie Bauer drohe eine »Bombe« zu platzen; doch seine Nachfragen beantwortete Felice nicht, weder in diesem noch in den folgenden Monaten.
    Bombe: ein kesses Wort für eine ernste Sache. Unüberhörbar die ironische Distanz, zu der Felice durchaus fähig war, ein wenig Berliner Schnoddrigkeit auch, mit der sich soziale Reibungen und Peinlichkeiten wunderbar überspielen ließen. Hätte Kafka erfahren, was sich da anbahnte, hätte ihm dieser Ton wahrscheinlich weniger behagt. Denn es handelte sich um eben jenes moralische Desaster, dessen Gefahr überall dort, wo bürgerliche Mädchen heranwuchsen und junge Frauen auf die Ehe warteten, für eine beständige leise Nervosität sorgte: der sogenannte ›Fehltritt‹. Den Kafkas war es (bisher) erspart geblieben, die Bauers hatte es jetzt getroffen, trotz des strengen mütterlichen Regiments: Erna, die um ein Jahr ältere Schwester Felices, war im fünften Monat schwanger. Und sie war allein. Eine Katastrophe.
    Zum Glück war Erna weitab vom Schuss und brauchte das Tribunal der Familie und Begegnungen mit Berliner Verwandten vorläufig nicht zu fürchten. Sie lebte in Sebnitz, einer Kleinstadt dreißig Kilometer südöstlich von Dresden, unmittelbar an der Grenze zu Böhmen, wo sie – vermutlich als Sekretärin – in einer Firma für elektrische Installationen arbeitete. Wie sie dorthin geraten war und wer der Vater ihres Kindes wurde, ist nicht überliefert [210]   ; sicher ist, dass von Heirat keine Rede war und dass Erna in Sebnitz weder auf materielle noch auf menschliche Unterstützung rechnen konnte. Sie vertraute sich der Schwester an. Wie um Himmels willen sollte man das den Eltern beibringen?
    Doch die Bombe platzte nicht. Sei es, dass Erna nicht den Mut zur {247} Reise nach Berlin fand, sei es, dass die fortwährenden Streitigkeiten der Eltern Anlass gaben, das große Geständnis immer wieder zu vertagen – die beiden Frauen behielten das Geheimnis für sich. Eine schwere Belastung vor allem für Felice, die ausgerechnet jetzt, zum Weihnachtsfest, da alles auf Versöhnung eingestimmt war, die denkbar schlechteste Komödie spielen musste. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie etwas so Schwerwiegendes vor den Eltern und sogar vor den Geschwistern verbarg; sie war es nicht gewohnt, quälende Sorgen ganz mit sich allein abzumachen, und ihr zunehmend schlechtes Aussehen, dessen Ursache die Mutter (und auch Kafka) an ganz falscher Stelle vermutete, ging wohl nicht zum Geringsten auf die nächtlichen Stunden zurück, in denen der Druck der Verantwortung ihr den Schlaf raubte. Wo war denn noch Raum für ihr Leben?
    Felice hatte sich selbst in ein klassisches double bind manövriert, das sie nicht klar durchschaute und das sich daher ungelöst und ungemildert auf Kafkas Leben übertrug. Wenn sie an ihre Familie dachte, an die Abgründe, die sich zwischen den ihr nächsten Menschen auftaten, dann musste sie Kafka von Berlin fernhalten. Denn sein Erscheinen würde die Spannungen weiter verschärfen, ohne dass sie damit rechnen konnte, einen neuen Vertrauten zu gewinnen, der sie auch äußerlich entlastete. Es war undenkbar, einem noch immer so fern stehenden Menschen Dinge anzuvertrauen, die sie nicht einmal den Eltern offenbaren konnte. Anna Bauer scheute sich nicht, die intimsten Briefe der Tochter zu lesen. Was würde geschehen, wenn sie eines Tages auf diesem Umweg vom eigenen Unglück erführe?
    Andererseits, eine fünfundzwanzigjährige, beruflich selbständige Frau war nicht verpflichtet, ewig die Hüterin des elterlichen Hausfriedens zu spielen. Sobald Felice an ihre eigene Situation dachte, konnte

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