Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
zu gehen.« [208] Dass Kafka während der Lesung eine Bildkarte Felice Bauers ganz undiszipliniert zerknüllte und dass ihm am Ende gar Tränen in die Augen traten, wird Fuchs, Wiegler und den übrigen bewegten Zuhörern wohl verborgen geblieben sein.
Auf dem Heimweg fühlte sich Kafka belebt, fast ein wenig berauscht, und sicherlich sparte Brod nicht mit Worten, um den Erfolg zu bekräftigen und den Freund dazu zu bewegen, die Gunst dieser Stunde zu nutzen. Öffentlichkeit war wichtig, hatte er es nicht immer gesagt? Und wenn die Qual des Büros, in dem sie beide ihr Leben vergeudeten, einmal ein Ende haben sollte, dann musste man eben zeigen, was man konnte.
Brod hatte gut reden. Die Verse, die er selbst vorgelesen hatte, stammten aus dem eben erschienenen Band DIE HÖHE DES GEFÜHLS, und das war seine vierte Buchveröffentlichung in diesem Jahr, ganz zu schweigen von einem Dutzend Aufsätzen und Artikeln, die seinen Namen in der literarischen Welt ständig präsent hielten. Dass er von schriftstellerischer Arbeit noch immer nicht leben konnte … nun, es gab widrige Umstände, und es war wohl nur eine Frage der Zeit. Was aber hatte Kafka vorzuweisen? Auf dem Schreibtisch wartete noch immer das Manuskript der VERWANDLUNG und in der Schublade ein unvollendeter Roman. Zu beidem würde er jetzt, zur besten nächtlichen Arbeitszeit, bestimmt nicht mehr kommen, und schuld daran war die Lesung. Das ließ nur einen Schluss zu, und den musste er Felice sogleich mitteilen, um den Rausch ein wenig zu dämpfen: »Jeder andere Abend ist wichtiger als der heutige, der doch nur meinem Vergnügen galt, während die andern Abende für meine Befreiung bestimmt sind.« Also doch wieder nur ein paar unnötig geopferte Stunden? Das denn doch nicht.
»Liebste ich lese nämlich höllisch gerne vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl. Ich habe sie aber auch tüchtig angebrüllt und die Musik die von den Nebensälen her mir die Mühe des Vorlesens abnehmen wollte, habe ich einfach fortgeblasen. Weisst Du, Menschen kommandieren oder wenigstens an sein Kommando zu glauben – es gibt kein grösseres Wohlbehagen für den Körper. Als Kind – vor paar Jahren war ich es noch – träumte ich gern davon, in einem grossen mit Menschen angefüllten Saal –, allerdings ausgestattet mit einer etwas grössern Herz- Stimm- und Geisteskraft, als ich sie augenblicklich hatte – die ganze Education sentimentale ohne Unterbrechung soviel Tage und Nächte lang, als sich für notwendig ergeben würde, natürlich französisch (o du meine liebe Aussprache!) vorzulesen und die Wände sollten widerhallen. Wann immer ich gesprochen habe, reden ist wohl noch besser als vorlesen (selten genug ist es gewesen), habe ich diese Erhebung gefühlt und auch heute habe ich es nicht bereut. Es ist – und darin soll die Verzeihung liegen – das einzige gewissermassen öffentliche Vergnügen, das ich mir seit einem Vierteljahr fast gegönnt habe.« [209]
Felice durfte aufatmen: endlich einmal etwas ungebrochen ›Positives‹. Offenbar hatte er sich doch beeindrucken lassen von den Reaktionen des Publikums und der Freunde – hatte er denn überhaupt schon jemals von »Befreiung« gesprochen? Sogar Wieglers Rezension schickte er ihr. Freilich, eine zusätzliche Pirouette musste auch diesmal sein. Denn während Brod ganz trocken argumentierte – ›Du musst an die Öffentlichkeit, wenn Du Dich befreien willst‹ –, demonstrierte Kafka wieder einmal seine Lust an der Dialektik. »Jeder andere Abend ist wichtiger als der heutige«, das hieß so viel wie: ›Wenn ich an die Öffentlichkeit will, muss ich mich jetzt von der Öffentlichkeit fernhalten, und es ist vorläufig ein Luxus, wenn ich mich zeige.‹ Das war fast schon kokett.
Aber diese Windungen kannte Brod zur Genüge. So war Kafka immer, wenn die Dinge sich einmal in die richtige Richtung bewegten. Die wunderbare VERWANDLUNG, aus der er den Freunden schon vorgelesen hatte, stand kurz vor dem Abschluss (von der Vollendung erfuhr Brod wahrscheinlich bei seiner Verlobungsfeier), und war diese Erzählung erst einmal gedruckt, dann würde sich Kafka nicht mehr so leicht entziehen können. Es war gut, dass gerade jetzt sein erstes Buch BETRACHTUNG ausgeliefert wurde, das würde sicherlich einige Kritiker stutzig machen und den Boden bereiten für den künftigen Erfolg.
Ein erstes Exemplar von BETRACHTUNG erhielt Kafka am 10.Dezember. Wir wissen
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