Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
nicht, mit welchen Gefühlen er das kleine Päckchen aus Leipzig öffnete; sicher ist jedoch, dass er von der heißen Begeisterung, mit der etwa Werfel ein Jahr zuvor seinen WELTFREUND den misstrauischen Eltern präsentiert hatte, weit entfernt war. Gewiss, die erste Lesung und das erste Buch in ein und derselben Woche – das war ein Wink, dem auch er sich nicht völlig verschließen konnte. Aber Kafka war kein Anfänger. Mit dem HEIZER, dem URTEIL und der VERWANDLUNG hatte er mittlerweile ein handwerkliches Niveau erreicht, von dem aus gesehen die jahrealten Miniaturen der BETRACHTUNG hübsche, aber unverbindliche Spielereien waren. Brauchbare Impulse waren von dort nicht zu erwarten – es sei denn die beständige Mahnung, dass man nun mehr und Besseres von ihm erwartete.
Kafka wird sein erstes Buch dennoch mit Herzklopfen durchblättert haben, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Schließlich waren dies die »Stückchen«, die er unter den Augen Felices ausgebreitet hatte: ein Andenken an die bisher einzige Begegnung, ein Fetisch, eine der noch immer viel zu wenigen, von Kafka verzweifelt herbeigeredeten und -geschriebenen Gemeinsamkeiten . Das Buch gehörte natürlich ihr. Und wenn er seit Monaten davon sprach, nur das Schreiben gebe seinem Leben einen Schatten von Berechtigung, war er dann nicht verpflichtet, eine solche Legitimation, wie bescheiden auch immer, nun endlich einmal schriftlich vorzulegen?
Zwei Tage später schon traf das Päckchen in Berlin ein. Und da Kafka nicht wusste, durch wessen Hände sein Geschenk gehen würde, hatte er sich eine besonders schlaue Widmung ausgedacht:
Für Fräulein Felice Bauer,
um mich bei ihr mit diesen
Erinnerungen an alte unglückliche
Zeiten einzuschmeicheln.
Franz Kafka
Prag 11 XII 12
Alte Zeiten? Das war zweideutig, und nur die Empfängerin konnte wissen, dass Kafka von einer Vergangenheit sprach, die kaum vier Monate zurücklag. Viel war seither geschehen, ganz Unrecht hatte er nicht. Aber in Kafkas Begleitbrief war nun gar von einem »alten, kleinen Buch« die Rede – ein Buch, das frisch aus der Druckerei kam! Ein {245} wunderliches Werk. Neunundneunzig Seiten nur, mit Lettern, so groß, als handle es sich um eine Kinderfibel. Sie zeigte es ihren Kolleginnen, die mit ihrer Verwunderung nicht hinter dem Berg hielten. Es stand wirklich sehr wenig darin, in diesem Buch.
Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Zahnschmerzen, Halsschmerzen. Und täglich Aspirin. Felice Bauer erging es schlecht. Noch niemals in ihrem Leben war sie so viel zu Ärzten gelaufen. Sie sah übermüdet aus, »wie eine Leiche auf Urlaub«, wie ihr jemand treuherzig versicherte. Selbst der Mutter wurde es jetzt unheimlich, wenngleich sie gar nicht daran dachte, die Zügel zu lockern und in ihrem Beharren auf familiären Verpflichtungen im Geringsten nachzugeben. Wenigstens am Sonntag konnte doch Felice sich an der Hausarbeit beteiligen, man sah sie ja die ganze Woche kaum. Erst neulich hatte sie anlässlich eines Firmenjubiläums bei einer kleinen szenischen Darbietung mitgewirkt, Abend für Abend war sie zu den Proben gelaufen, und beim Fest wurde wieder einmal getanzt bis in den Morgen. Man kannte das, es war nicht ihre Art, sich bei solchen Veranstaltungen auszuschließen, auch wenn ihr Arbeitstag strapaziös war. Aber wozu dann noch dieser aberwitzige, kräftezehrende, zu nichts führende Briefverkehr, nachts, bei Kerzenlicht? »Das ist dein Ruin!«, rief die Mutter ein ums andere Mal. Und als Felice am Ende des Chanukkafests, morgens um drei, vor Müdigkeit fast umsank, werden die kopfschüttelnden Kommentare der Familie nicht besonders tröstlich gewesen sein: Beim Tanzen und Briefeschreiben wurde man nicht müde, oder?
Kafka war sich bewusst, dass er von all diesen Sorgen nur in abgemilderter, schonender Weise erfuhr. Schließlich hatte man sich gegenseitig »Ruhe« versprochen, und so beteiligte er sich an diesem Spiel mit halbherzigen Späßen: »Die Schande! … Die Geliebte eines Naturheilmenschen hat Halsschmerzen!« Doch ihre Klagen waren nachdrücklich genug, und wenn das, was er da in Andeutungen zu hören bekam, nur ein Teil der Wahrheit war – umso schlimmer. Eben noch hatte sie versichert, keine Geheimnisse vor ihm zu haben, dann wieder sprach sie in Rätseln, und trotz allen Drängens vermochte Kafka kein klares Bild zu gewinnen, was bei den Bauers eigentlich vor sich ging.
Tatsächlich konnte sich Felice Bauer nur schwer dazu entschließen, den schwierigen Freund ins
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