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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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diese Furcht ließ sich, je näher die Weihnachtsferien rückten, immer weniger niederhalten. Obwohl für die beiden unmittelbar Beteiligten, für die Schwester und für Brod, jene Festlichkeiten von unvergleichlich verschiedener Bedeutung waren, verschmolzen sie für Kafka zu einer einzigen Bedrohung. Und als er einige Wochen später über die Ursachen seiner fortdauernden Depression nachdenkt, kann er nur eine aussprechen: »Trauer, die allerdings alle möglichen Gründe hat. Nicht der kleinste ist das Miterleben dieser zwei Verlobungszeiten, Maxens und meiner Schwester. Heute im Bett klagte ich zu Dir über diese zwei Verlobungen in einer langen Rede ...« [206]  

    Es zählt zu den vielen für Kafkas Leben so charakteristischen ›Zufällen‹, dass im selben Monat, ja in derselben Woche, da die Frage der Ehe erstmals zum Anlass sehr konkreten Entscheidungsdrucks wurde, auch der imaginierte Gegenpol, die Literatur, unvermittelt in ein verändertes Licht rückte und seine soziale Existenz elektrisierte. Im Gegensatz zu Brod kannte ja Kafka die Literatur bisher eigentlich nur von innen : zunächst als einsamer Leser, dann im literarischen Privatissimum mit Freunden, schließlich, vor den leeren Seiten seiner Notizhefte, als einen Raum intimster Phantasmagorien, deren Bewältigung {241} glücklich machte und deren Verworrenheit manchmal peinigend war. Gewiss, Kafka las gelegentlich vor, aber das war noch keine wirkliche Wendung nach außen, es war, wie wenn man guten Freunden einen Traum erzählt. Unvoreingenommene Kritik an dem, was ihm gelungen schien, hatte er überhaupt noch nicht erfahren, zu schweigen von der Wirkung auf eine anonyme Leserschaft, die er sich nicht einmal flüchtig vorzustellen vermochte. Seine bisherigen kleinen Veröffentlichungen waren ohnehin untergegangen zwischen all den überquellenden Prager Feuilletons.
    Nun war aber Willy Haas auf den Gedanken verfallen (oder hatte sich, wahrscheinlich von Brod, dazu animieren lassen), den literarischen Sonntagszirkel Kafka–Brod–Baum zu einer halböffentlichen Lesung zu laden. Die ›Herder-Vereinigung‹, der er präsidierte, plante für ihre Mitglieder einen ›Prager Autorenabend‹ im Hotel Erzherzog Stephan am Wenzelsplatz (dem heutigen ›Europa‹), bei dem »eingeführte Familienangehörige, auch Damen« ausdrücklich willkommen waren. Dass Brod und Baum zusagten, war selbstverständlich. Aber auch Kafka ließ sich nicht lange bitten. Er hatte zwar vor Publikum noch niemals aus seinen Heften gelesen, und beim Vortrag über die jiddische Sprache, Mitte Februar, war er vor Aufregung beinahe zersprungen. Aber damals quälte ihn der Verdacht, er bewege sich auf dem schwankenden Boden fadenscheinigsten Halbwissens, während er diesmal seiner Sache sicher war: DAS URTEIL war gelungen, war »zweifellos«, damit konnte man sich hören lassen.
    Kafkas Debüt war strategisch günstig platziert, denn er war nach Brod und Baum der Letzte des Triumvirats: Seine Sätze würden am längsten nachklingen. Wirkungsvoll war vor allem der Kontrast zu der konventionell-realistischen Erzählweise Oskar Baums: Von diesem Stil waren ja die ersten Absätze des URTEILS nicht gar so weit entfernt, sodass die Zuhörer gleichsam in Sicherheit gewiegt wurden, ehe plötzlich härtere Kontraste aufbrachen und alles auf die schiefe Ebene eines Albtraums geriet.
    Dass sie einer literarischen ›Sternstunde‹ beiwohnten – der ersten von nur zwei öffentlichen Lesungen eines künftigen Weltautors –, konnten die nicht besonders zahlreich erschienenen Gäste natürlich nicht ahnen. Wahrscheinlich spürten sie aber, dass Kafka am stärksten beteiligt war. Für ihn bedeutete diese Lesung nicht nur ein beflügelndes narzisstisches Erlebnis, sondern zugleich die Entfesselung destruktiver {242} innerer Kräfte, die durch die sprachliche Form des URTEILS nur notdürftig gebändigt und noch längst nicht bewältigt waren. Es war wie das Aufdecken einer noch frischen Wunde. »Er las«, erinnerte sich der Prager Autor Rudolf Fuchs, »mit solch einer still verzweifelten Magie, dass ich ihn auch heute noch, nach sicherlich nicht viel weniger als zwanzig Jahren, in dem abgedunkelten schmalen Vortragssaal vor mir sehe.« [207]   Der ebenfalls anwesende Paul Wiegler, den Kafka flüchtig kannte, begeisterte sich in einer Rezension: »der Durchbruch eines großen, überraschend großen, leidenschaftlichen und disziplinierten Talentes, das schon jetzt die Kraft hat, allein seinen Weg

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